Название: Janowitz
Автор: Rolf Schneider
Издательство: Bookwire
Жанр: Языкознание
isbn: 9783955102654
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Sie dachte an das Gespräch mit ihrem Bruder. Den Grafen Carlo Guicciardini hatte sie während einer ihrer Italienreisen kennengelernt, einen liebenswürdigen, etwas klein gewachsenen Menschen, die meisten Männer, die sich um ihre Gunst bemühten, waren kleinwüchsig. Gab es dafür einen Grund? Sie wusste keinen. Guicciardini entstammte einer alten Florentiner Familie, mit einem hochberühmten Vertreter im Zeitalter der Renaissance, Francesco, enger Freund des Staatsphilosophen Niccolò Machiavelli. Auch Francesco hatte, wie Machiavelli, in Diensten der Medici gestanden, auch er hatte, wie Machiavelli, ein berühmtes Buch geschrieben, »La storia d’Italia«, auf der Apenninhalbinsel jedem Schulkind geläufig, und eigentlich war dies ein erstaunlicher Buchtitel, da es damals einen Staat Italien noch längst nicht gegeben hatte, der war erst vor gerade fünfzig Jahren entstanden. Von Francesco existierte eine Porträtstatue, aufbewahrt in den Uffizien, Sidonie hatte sie sich dort anschauen dürfen, natürlich in Begleitung von Carlo.
Sie galoppierte vorbei an einer gemähten Weide, auf der Landarbeiter beschäftigt waren. Als sie Sidonie erkannten, hielten sie in ihrer Tätigkeit inne, nahmen ihre Mützen vom Kopf und verbeugten sich etwas. Sidonie grüßte mit einer flüchtigen Geste der rechten Hand.
Die Agrarflächen von Schloss Janowitz waren ausgedehnt. Den letzten Zuerwerb hatte Sidonies älterer Bruder Johannes betrieben, die Verwaltung erledigte jetzt ihr anderer Bruder Charlie. Der seufzte darüber. Es war ein theatralisches Seufzen. Die Nádhernýs gehörten zu den wohlhabenden Familien in Mittelböhmen, vielleicht nicht ganz so reich wie die Thurn und Taxis, angesehen und sehr wohlhabend immerhin. So viel wusste sie. Mehr musste sie nicht wissen. Sie verstand nichts von Ökonomie. Ihre Neigungen galten der Botanik, den schönen Künsten und den Reisen in fremde Länder. Charlies wiederholte Klagen über Probleme der Landwirtschaft nahm sie ebenso geduldig hin wie seine Vorwürfe wegen der ständigen Buchsendungen, die sie erhielt und für die er aufkommen musste. Dass sie sich ein Automobil zugelegt und Unterricht genommen hatte, um es selbst chauffieren zu können, ertrug er hingegen klaglos, da es offenbar dem Ansehen der Familie zugutekam.
Sidonie und er waren Zwillinge. Charlie war kurz vor ihr zur Welt gekommen, was er bei gelegentlichen Auseinandersetzungen anzuführen pflegte: Ich bin zwanzig Minuten älter als du, außerdem bin ich ein Mann. Worauf sie erwiderte: Die Vorstellung, dass Männer wichtiger sind als Frauen, stammt aus dem Mittelalter. Dazu er: Jedenfalls gibt es sie, und sie gilt immer noch.
Charlie hielt beharrlich fest an der Idee, Sidonie müsse heiraten und dies möglichst bald, eine Ehe sei auch keine Angelegenheit von Gefühl und Zuneigung, sondern eine des gesellschaftlichen Weiterkommens. Das Haus Nádherný habe Adelstitel und Stammbaum, die es fortzusetzen gelte. Natürlich traf dies alles ebenso und eigentlich noch viel mehr für Charlie zu, der aber keinerlei Anstrengungen unternahm, sich selbst zu binden. Er sei, sagte er, nicht gesund und habe es an den Ohren.
Er sähe es gern, wusste sie, wenn sie Carlo Guicciardini ehelichte. Der Italiener hatte zwar nicht viel Geld, doch sein Adel war so alt wie jener der Thurn und Taxis. Für Sidonie zählte das nicht. Sie hielt weniger auf gesellschaftliches Weiterkommen als auf Gefühl und Zuneigung. Carlo Guicciardini war zwanzig Jahre älter als sie, seine Zähne waren schlecht, außerdem war er Witwer, hatte also bereits eine Frau verbraucht. Auf solche Einwände pflegte Charlie zu sagen, dies alles habe auch Vorteile, alte Männer seien sanft, ließen sich leiten und suchten keine Abenteuer. Sie lachte durch die Nase. Woher bezog Charlie derlei Weisheiten? Aus den Zeitungen, die er sich täglich kommen ließ? Standen solche Dinge in Zeitungen?
Sie kehrte zurück ins Schloss. Sie war eine knappe Stunde unterwegs gewesen. Sie sprang ab, ein Stallbursche übernahm das Pferd. Sie ging ins Haus, am Frühstückstisch saß jetzt Rilke, allein, in hellem Anzug mit fliederfarbener Krawatte, vor sich einen Teller Haferbrei, darauf brauner Zucker. Sie hatte der Küche eine entsprechende Anweisung gegeben, der Dichter war Vegetarier. Sie grüßte ihn. Er sprang auf, tupfte sich mit der steifen Serviette den Mund ab und grüßte zurück. Er sei dankbar, sagte er, dass man sich seiner Essgewohnheiten erinnert habe, und sagte, er habe etwas Prosa für Sidonie kopiert, einen kleinen Text über Janowitz.
Er nahm vom Tisch ein hellblaues Blatt Papier und überreichte es ihr. Sie erkannte seine fast kalligraphische Handschrift, ihr vertraut aus vielen Briefen. Sie las:
Janowitz, wie hab ich’s mir doch zu Herzen genommen. Es kommt viel in meinem Inneren vor. Das von Sidonie errichtete Zelt mit Phlox rechts und links bedeutet: Ruhe. Ein Weg, grasüberwachsen, auf der einen Seite Mauer, auf der anderen Obstbäume voller Äpfel, im Rasen stehend heißt: Freude. Flaches Gemüseland, von Hecken umrahmt, mit kleinen Wegen, Wasserläufen, einem kleinen runden Schöpfteich in der Mitte und unaufhörlichem Himmel über sich ist: Freiheit oder Glück.
Er nahm das erste Exemplar seiner »Fackel« zur Hand und blätterte darin, wieder einmal. Die Zeitschrift war jetzt fünfzehn Jahre alt. In der letzten Ausgabe hatte er an dieses Jubiläum mit dem Abdruck eines albernen Leserbriefs erinnert.
Das Heft zeigte, nun schon im dreizehnten Jahr, jenen schlichten, bloß auf Typografisches setzenden roten Umschlag, zu dem er sich nach dem Zwist mit seiner früheren Druckerei entschlossen hatte. Zuvor gab es die Jugendstilgrafik mit der rauchenden Fackel, inmitten vielen Gewölks und vor der schwarzen Silhouette einer Stadt, die man für Wien halten durfte.
Er blätterte in dem Heft. Er las: Ich habe es bisher nicht über den Ruhm hinausgebracht, in engeren Kreisen missliebig geworden zu sein. Er las: Mein Sündenregister wäre unvollständig, vergäße ich die Erwähnung des Kampfes, den ich in mehreren periodisch erscheinenden Druckschriften seit einer Reihe von Jahren gegen die periodisch erscheinenden Dummheiten und Lächerlichkeiten unseres politischen, gesellschaftlichen und literarischen Lebens geführt habe.
Er blätterte weiter. Die Texte handelten von Politik, Theater, Malerei und Literatur. Sie verhöhnten die damalige Regierung, den Wiener Bürgermeister und das Tageblatt Neue Freie Presse. Sie verhöhnten ausführlich die Literaten Josef Bauer und Hermann Bahr, etwas gnädiger behandelt wurden Arthur Schnitzler (umständliche seelische Obduktion) und Hugo von Hofmannsthal (Edelsteinsammler aller Literaturen). Es gab Fußtritte gegen den Liberalismus, den Zionismus und den Antisemitismus. So möge denn die Fackel einem Lande leuchten, in welchem – anders als in jenem Reiche Karls V. – die Sonne niemals aufgeht.
Das Heft enthielt ausschließlich Beiträge von ihm, Karl Kraus. Später hatte er auch Texte von anderen abgedruckt. Inzwischen schrieb er sämtliche Beiträge wieder allein.
Was hatte er mit alledem erreicht? Er stand da, das alte Heft in der Hand, und fragte es sich. Er war bekannt und gefürchtet. Gut. War er stolz darauf? Auch das. Tat er dies alles um seinetwillen oder der Sache wegen?
Als damals die erste Ausgabe auf den Markt kam, dreihundert Exemplare, erwiesen sich Echo und Nachfrage als so außerordentlich, dass augenblicklich und mehrfach nachgedruckt werden musste. Vorbild für das Unternehmen war »Die Zukunft«, eine Berliner Zeitschrift, herausgegeben von Maximilian Harden, mit dem Kraus zunächst eng befreundet war, ehe er sich mit ihm zerstritt, da es Harden gefiel, missliebige Politiker mit Einzelheiten aus deren Sexualleben bloßzustellen. In Sachen Sittlichkeit und Kriminalität war Kraus hochempfindlich.
Harden hatte sich gerächt und über die Liebesbeziehung zwischen Kraus und Annie Kalmar gelästert. Die schöne junge Schauspielerin, gebürtige Deutsche mit eigentlichem Namen Elisabeth Kaldwasser, hatte Kraus bei einer Aufführung des Wiener Volkstheaters entdeckt. Gegeben wurde eine fade französische Posse, ein Mitspieler war der berühmte Alexander Girardi. Annie Kalmar erschien ihm als die Herrlichste von allen.
Das Lob der »Fackel« machte sie augenblicklich bekannt. Sie bedankte sich, voller Rührung, so lernten sie und Karl Kraus sich persönlich kennen. Sie war nicht sehr gesund, sie litt an Tuberkulose, schon seit Langem. Sie spielte СКАЧАТЬ