Jahrhundertwende. Wolfgang Fritz Haug
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Название: Jahrhundertwende

Автор: Wolfgang Fritz Haug

Издательство: Автор

Жанр: Историческая литература

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isbn: 9783867548625

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СКАЧАТЬ anlandete. Er wirkte erschüttert, weich, das Peronistische, das sich in den letzten beiden Jahren immer öfter in seine Züge geschlichen hatte, war abgefallen. Man habe ihn 72 Stunden von der Außenwelt abgeschnitten, ihm nicht einmal Fernsehen gestattet. Offenbar habe man seine Zustimmung erpressen wollen. Er habe standgehalten, weil ihm klar gewesen sei, dass die Verschwörer nicht durchkämen. Nur deshalb?

      Die Verlierer sehen natürlich schlecht aus. Ihr Abgang wie Schmierenkomödie. Man darf sich dadurch nicht beeindrucken lassen. Es ist, als wären diejenigen, die noch gestern G politisch totgesagt haben, den Putschisten gram ob dieser ihrer erwiesenen Unfähigkeit. Die TAZ (Helge Donath) verspottet die »unentschlossene Altherrenriege«, als wäre eine entschlossene Jungmännerriege besser. Und sie spricht vom »Moskauer Schmierentheater«, weil »Lumpen und Feiglinge in der Hauptrolle«. Als stünden Pinochetisten in einem höheren Würderang. Merkwürdig auch, dass die TAZ noch danach als »Gefahr« ausspricht, was doch die einzige Hoffnung (und tatsächliche Lösung) war, dass sich »verschiedene Teile der Armee nun auch militärisch gegenüberstehen«.

      Die Hydra des Extremismus begleitet seit Montag das Geschehen wie eine schwarze Wolkenfront im Hintergrund. G soll den Putsch gegen sich womöglich selbst geplant haben. Das cui bono des Gerüchts liegt auf der Hand. Vertuscht werden soll, dass G ja das erste tatsächliche Opfer war, nicht Jelzin. Segbers im Fernsehen verkörpert, als er mit solchen Gerüchten konfrontiert wird, blendend TV-gerecht den engagierten Sachverstand, der ein seltenes Glück für die Öffentlichkeit ist, wenn er auf einen Gatekeeper-Posten kommt.

      »Michail Gorbatschow ist wieder an der Macht«, mit diesem Satz der Nachrichtensprecher beginnt auch die TAZ. Dieser Satz stammt aus dem Weißen Haus der USA; im Telefonat mit dem US-Präsidenten soll Gorbatschow gesagt haben: »Ich bin wieder an der Macht.« Aber der Satz ergibt keinen Sinn, denn da ist kein Wieder, und »die Macht« ist quantitativ und qualitativ ruckartig verändert, weil die Kräftekonstellation es ist, aus der sie resultiert. Die Macht ist jetzt woanders.

      Bilder der Freude aus Moskau. Sie dürfen nicht davon ablenken, dass der Staatsstreich in der Bevölkerung weithin auf Gleichgültigkeit oder sogar Zustimmung gestoßen ist.

      Die Schlagzeile der TAZ auf der Titelseite lässt noch den alten Witz der Subversivzeitung erahnen: »Gorbatschow wieder gesund«. Bereits der Untertitel angesteckt vom ideologischen Wahn des Westens: »Das Ende des Sowjet-Imperiums«. Statt die Transformation zu sehen. Christian Semmler, ehedem »KPD«-Führer, schreibt: »Die Niederlage der Putschisten setzt den endgültigen Schlussstrich unter das sowjetische Imperium.« Klaus Hartung: »Und die Wahrheit ist: Die Demokratie existiert. […] die Perestrojka kann nicht mehr scheitern, denn sie ist schon von der Demokratie abgelöst worden. Jetzt geht es nicht mehr um Umgestaltung, sondern um die Demokratie selbst. […] Die Demokratie wurde in diesen Tagen geboren.« Den Staatsstreich versteht er als den Versuch, »mit einer Palastrevolte eine neue Zentralgewalt zu simulieren«.

      Jewgenij Bowkun sagte zum »Freitag«, es sei das Verdienst von G, »dass der Putsch fast ein Jahr hinausgezögert werden konnte. Das haben die demokratischen Kräfte dazu nutzen können, sich zu konsolidieren.« In dieser Zeit wurden die parlamentarischen Institutionen Russlands geschaffen. Ohne sie hätte Jelzin nicht die Legalität beanspruchen können.

      Kohls Selbstrechtfertigung hinsichtlich des Tempos der deutschen Einheit umdrehend, schreibt Michael Jäger: »Hätte er die Vereinigung nicht mit dem Tempo des Bankräubers durchgezogen, der sich beim Einbruch beeilt, weil er die Polizei schon unterwegs weiß, Gorbatschow wäre vielleicht noch heute im Amt.«

      Das ist als Retourkutsche gut, aber vielleicht nur gut gemeint. Doch Jäger hat recht, dass die Vorenthaltung materieller Hilfe seitens des Westens Gorbatschow geschwächt hat und dass die Vorbedingung eines sofortigen und totalen institutionellen Übergangs zum Kapitalismus darauf hinausläuft, dass »der Sowjetunion kein ›eigener Weg zum Kapitalismus‹ gestattet« ist.

      Die »ZEIT« von heute veraltet. Haben anscheinend einen langwierigen Produktionsprozess. Ulrich Greiner: »In Gorbatschows Politik war Glasnost folgenreicher als die Perestrojka. Diese ist gescheitert, jene aber hat Veränderungen bewirkt, für die nur das Wort Revolution taugt.« Da spricht Selbstüberschätzung eines Journalisten: die Medien konnten geschlossen oder unter Kontrolle genommen werden, während das politische Produkt der Perestrojka, das russische Parlament mit seinem vom Volk gewählten Präsidenten, zur »Bastion demokratischer Legalität« (Semmler in der TAZ) wurde.

      Von Biermann hochmütige Fehleinschätzungen der russischen Bevölkerung, auch der Bergarbeiter, denen er, ihren politischen Streik unterschlagend, vorhält, sie hätten bloß für »ein Stück Seife mehr pro Mann und Monat« gestreikt.

      22. August 1991 (2)

      Von den sowjetischen Journalisten kriegt G genaue Fragen nach den Verantwortlichen und nach seiner Verantwortung, da er jene doch in ihre Machtstellungen berufen hat. Er holt weit aus und weicht auch aus. An der Partei hält er fest. Und an der sozialistischen Idee. Man merkt, dass er die KPdSU gerne in eine große sozialdemokratische Partei umformen würde. Sanktioniert die inzwischen von Jelzin und dem russischen Parlament erlassenen Dekrete.

      Gerhard Simon (BIOST) sieht ihn Mitleid heischen und Zustimmung fordern. Die russischen Dekrete sanktionierend wisse G vermutlich noch gar nicht, was sie enthalten: Enteignung der KPdSU (ZK-Gebäude und Zeitungen), Abschaffung der Roten Fahne, eine eigene russische Armee, Russifizierung der gesamten Industrie. In der Tat markieren diese Landnahmen eine ungeheure Machtverschiebung. Jelzin schmiedet das Eisen, das jetzt noch heiß ist. Es gibt kein sowjetisches Fernsehen mehr, nur mehr ein russisches.

      Dass G an der Partei und der sozialistischen Orientierung festhalten will, kommentiert die westliche Presse bekümmert und kopfschüttelnd: G, der doch jetzt die Chance hätte, von der KPdSU loszukommen, wodurch er überhaupt erst wieder neue politische Chancen bekäme, G will in der Partei mit den Putschisten abrechnen, aber nicht mit der Partei als solcher.

      Die Fernsehbilder zeigen sehr sinnfällig, wie hier eine nationale Fusion geschieht, Wiederkehr des verlustig gegangenen Gemeinwesens im Nationalimaginären. Diese seit langem Niedergeschlagenen und Gedemütigten, Hoffnungslosen, denen es immer schlechter ging und die jeden Glauben an sich verloren hatten, in der Feier dieses Sieges werden sie als Russen wiedergeboren. »Nationale Erhebung« bedeutet hier wortwörtlich eine Erhebung für die Individuen.

      *

      Die USA überlegen derzeit, ob sie mehr am Fortbestand der Union interessiert sind oder an ihrer Auflösung. Ich rechne damit, dass das neue russische Nationalbewusstsein bald Maß nehmen wird an den Dissidenzen der anderen Nationalitäten »auf russischem Boden«.

      *

      Heute kam mit der Post die Erklärung der Junta. Nicht einfach von der Hand zu weisen.

      23. August 1991

      Statt des Sturms aufs KGB-Zentrum der Bildersturz: Die Statue Felix Dserschinskis, des KGB-Gründers, wurde heute Nacht gestürzt.

      Sich vorzustellen, die KPdSU wäre an vorderster Front mit dabei gewesen, ihren Generalsekretär zu retten! Nun wird der Umsturz des Umsturzversuchs sie zu Fall bringen. Jetzt findet eine politische Revolution statt, aber als nationale Revolution. Ihr Zeichen ist der Engel der Geschichte, wie Benjamin ihn sieht: der Wind bläst zwar vom Paradiese her, aber treibt sie gerade deswegen fort davon, hinterrücks in die Zukunft.

      Die FAZ (EF) spricht vom »geradezu weltgeschichtlichen Epochenwechsel« der vergangenen drei Tage. Sie feiert seinen Gehalt bedenkenlos als die nationale Rekonstitution Russlands, blind dafür, welches weltzivilisatorische СКАЧАТЬ