Jahrhundertwende. Wolfgang Fritz Haug
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Название: Jahrhundertwende

Автор: Wolfgang Fritz Haug

Издательство: Автор

Жанр: Историческая литература

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isbn: 9783867548625

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СКАЧАТЬ und gegen die Tatenlosigkeit des Staatspräsidenten«. »Eine passive und resignative Mehrheit ist dann kein Faktor der Politik, wenn eine dynamische und aktive Bewegungsminderheit die Straße und die öffentliche Meinung der Zentren beherrscht.« Die »Erfolgsmöglichkeiten für einen Coup dieser Art waren spätestens mit der Wahl Jelzins zum Präsidenten Russlands passé. Dies eröffnete die Phase der Doppelherrschaft der Unions- und Republikorgane«, was zum »Loyalitätskonflikt« in den Repressionsorganen führte. Entscheidend sei, dass es »der Gorbatschow-Richtung nicht gelungen war, eine breite und aktive Massenbewegung als Subjekt der Perestrojka zu schaffen«. Warum nicht, sagt er nicht.

      Auch wenn die Perestrojka »nicht die Ursache« für die »Krisenkonstellation der sowjetischen Gesellschaft« war, habe sie als »inadäquate Antwort […] nur die Krise und Widersprüche aus der Latenz entbinden [können], ohne in der Lage zu sein, jene Bewegungsformen zu schaffen, in denen sich die Reform des Sozialismus, der Übergang von autoritären Staatssozialismus zu einem zivilgesellschaftlich und demokratisch geprägten Sozialismus hätte vollziehen können«. Das macht den »Gorbatschowismus« in Jungs Augen zur »Philosophie des Abgangs einer Weltmacht und der Kapitulation«. Das meint das Abgehen der sowjetischen Außenpolitik von der »Leninschen Imperialismustheorie als Grundlage« und die Leugnung der »bestimmenden Rolle der sozialökonomischen Antagonismen, also der Klassenfragen«, kurz, die Anerkennung der Priorität von Menschheitsfragen. Das ist alles nicht rundum falsch, aber halbrichtig, wo rücksichtslos die Fehlkonstruktion des Stalinismus analysiert werden müsste.

      25. August 1991

      Gorbatschow dementierte sich selbst. Er hat das Amt des Generalsekretärs verlassen, zur Auflösung des ZK aufgerufen. Offenbar hat sich die alte staatliche Führungsschicht, die zugleich parteiliche Führungsschicht war, auf diese Linie geeinigt.

      *

      Gorbatschow – der »Zusammenhang seiner Gedanken« steht verlassen umher, wie eine abgeräumte Filmkulisse. Es ist, als hätten die Vorstellungen ihr Vorgestelltes verloren. Und doch muss es eigentlich umgekehrt gewesen sein. Die das bedrängte Gemeinwesen zu repräsentieren beanspruchten, sind gescheitert, blamiert. Es ist die Repräsentation, die sich davongemacht hat. Die Repräsentierten sitzen weltweit unvertreten in ihren Nöten, von der großen Not der Menschheit und ihres Lebensraums ganz zu schweigen. Das Perestrojka-Journal ist nun jedenfalls beendet.

      Dass jetzt das nationalisierte Russland, bzw. seine führenden Repräsentanten, sich de facto die multinationale Sowjetunion aneignen, wird interessante Entwicklungen nach sich ziehen. Sie zu beobachten ist aber etwas anderes, es ist nicht mehr unmittelbar meine, ›unsere‹, Sache. Diese unsere Sache muss ich nun an anderen Substraten und Subjekten beobachten. Auch wende ich mich wieder verstreuten Mikroanalysen zur hochtechnologischen Produktions- und Lebensweise des transnationalen Kapitalismus zu. Sich mit Niedergehendem zu identifizieren, bei aller Analyse, Voraussicht und Kritik gefühlsmäßig immer wieder spontan ›konservativ‹ im Wortsinn und schier unbelehrbar zu sein – dieser Dauerdruck der letzten Jahre wird nun hoffentlich weichen.

      *

      Die FAZ berichtet von einer Studie der Deutschen Bank über die Sowjetunion: der Bericht schwelgt zunächst in Zahlen über Ausdehnung (60 mal so groß wie Deutschland, allein Russland zweimal so groß wie die USA), um sich dann vor allem den Naturressourcen zuzuwenden. Ein Rohstoffradar von oben. Dieser Blick sieht ein Fünftel der bekannten Goldvorkommen der Erde, 22 Prozent des Erdöls und 34 Prozent des Erdgases, 27 Prozent des Eisens usw. usf. Von den Republiken seien nur sechs so stark, dass sie den Anschluss an die wirtschaftlichen Standards des Westens finden könnten, heißt es euphemistisch, bedeutet im Klartext: dass es sich für den Westen lohnt, sie formell in den Weltmarkt (Westmarkt) zu integrieren und materiell zu subsumieren.

      In der TAZ behandelt Klaus-Helge Donath Gorbatschow als Unverbesserlichen, der die sozialistischen Flausen nicht lassen kann. Er schwimmt mit in der momentanen Moskauer Strömung. Einzig Antje Vollmer äußert sich in der gestrigen TAZ im Sinne meiner These von der »Glorious Revolution«: »Die wirkliche Fehleinschätzung – auch des Michail Gorbatschow – in diesen Monaten war die, selbst nicht für möglich gehalten zu haben, wie erfolgreich er schon in der Schwerstarbeit der Aufspaltung der Partei und der Zerrüttung der Reaktion gewesen war. […] Doch den Apparat vorzeitig für besiegt zu halten, wäre grob fahrlässige Scharlatanerie gewesen.« Sie begreift es als »unbestreitbar, dass dieser Putsch in der ersten Etappe der Perestrojka todsicher gesiegt hätte und dass nur das hautdichte Dranbleiben Gorbatschows an diesem Parteiapparat die […] Zerrüttung der gewaltigsten Bürokratie-Maschine bewirkt hat, die die Welt bisher kannte«. G ermöglichte die »gewaltfreie Entmachtung dieses Apparates«. Gleichwohl spricht Antje von »Revolution«.

      Ansonsten verstärkt die TAZ (Reinhard Mohr) des Neokonservativen Lepenies genüssliche These vom »Desaster der interpretierenden Klasse«. Residuum des Klassenbegriffs. Zum Erbrechen.

      *

      Einen in der TAZ abgedruckten Vortrag von Wladimir Malachow lesend, wo es um den Simulationismus in Russland geht, fällt mir die momentane jelzinsche Modifikation des russischen Nationalismus auf: er trennt sich vom herkömmlichen durch Anerkennung der Selbständigkeit der andern Republiken. Seine Gegner, die Protagonisten des gescheiterten Staatsstreichs, wären demnach eher im Muster des traditionellen Nationalismus geblieben. »So wie man einerseits ›russisch‹ durch ›sowjetisch‹ ersetzte, wurde andererseits ›sowjetisch‹ durch ›russisch‹ abgelöst.« So durch Stalin oder Jesenin, der kurz und bündig »Rusj« sagte und die multinationale Sowjetunion meinte. Jedenfalls herrscht auf dieser »nationalen« Verschiebungsachse zur Zeit Hochbetrieb, Coup und Gegencoup verkehren im selben Medium.

      Malachows Hauptthese: in Russland das Individuum bis heute nicht wirklich anerkannt, daher bleiben alle Institutionen in Wirtschaft, Politik und Recht, die es voraussetzen würden, Simulation. Er zeichnet ein dualistisches Metapherngerüst, das dem nationalistischen Diskurs seine Einheit gibt: organisch/mechanisch, warmes Herz/kalter Intellekt, ungeteilte Gemeinschaft/Individuum; daran schließen Vitalität/Leblosigkeit, Fülle/Leere, Innerlichkeit/Äußerlichkeit, Tiefe/Oberflächlichkeit, Blüte/ Fäulnis. Merkwürdig, hier der Fäulnismetapher wiederzubegegnen. Der »faulende Westen« sei ein russisch-patriotischer Topos seit 150 Jahren.

      25. August 1991 (2)

      Marschall Achromejew hat sich heute Nacht erhängt.

      Treffende Beschreibungen der Krisenlage im Aufruf des Notstandskomitees. Aber kein Schatten eines Begriffs. Einiges grotesk neben aller Wirklichkeit: »Über die Gesellschaftsordnung soll das Volk entscheiden, dem dieses Recht heute entzogen wird.« Ein Dokument der Verzweiflung. Ich müsste herzlich froh sein – und bin es nur verstandesmäßig –, dass uns dieses Militär- und KGB-Regime erspart geblieben ist.

      Was jetzt in Russland läuft, trägt Züge eines Gegenstaatsstreichs, ist aber auch eine Revolution, wie ich sie nie verschlungener und zweideutiger gesehen habe. Falls sie sich nicht positiv beschäftigt, und zwar umgehend, droht die vom Notstandskomitee an die Wand gemalte Hungersnot, begleitet von Racheorgien.

      Nun hat sich auch Weißrussland aus der Union verabschiedet. Der wegen des Staatsstreichs ununterzeichnet gebliebene Unionsvertrag wird wegen des Zusammenbruchs des Staatsstreichs für immer ununterzeichnet bleiben, zumindest dieser. Hier hält man eine lose Konföderation für möglich.

      Arnold Schölzel kann sich Russland nicht ohne die Ukraine vorstellen. Aber warum sollten sie künftig nicht Handel treiben? Die EG wird ihre Agrarüberschüsse kaum durch ukrainische Agrarimporte vergrößern wollen. Arnolds tiefer Kummer, der an Verzweiflung grenzt, kommt meines Erachtens zu spät, wäre spätestens vor einem Jahrzehnt – andere würden sagen, vor drei Jahrzehnten – СКАЧАТЬ