Название: Gesang der Lerchen
Автор: Otto Sindram
Издательство: Автор
Жанр: Историческая литература
isbn: 9783927708464
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Nachdem die letzten Zeugnisse verteilt waren, ging er zum Katheder zurück und redete von dort weiter. »Wissen ist Macht, heißt es ja heute, aber ist Wissen schon alles? Was stellen die Wissenden mit der Macht an? Und wer schützt uns vor den Mächtigen?«
Als Seiter sah, dass alle in der Klasse mit ihren Zeugnissen beschäftigt waren und nicht zuhörten, schwieg er. Angela, die Intellektuelle in der Klasse, die eine große Hornbrille trug und neuerdings neben Ruth auf Inges Platz saß, unterbrach nach einer Weile die Stille.
»Was werden Sie jetzt machen?«
»Wenn es klappt, unterrichte ich weiter an einem traditionellen Gymnasium in Westberlin. Wie heißt es doch gleich: Das Bildungsprivileg des Bürgertums stabilisieren helfen. Jedenfalls werde ich wieder richtig Geld verdienen. Als Westberliner muss man hier im Osten ja eine gehörige Portion Idealismus mitbringen. Ein Viertel Gehalt in Westmark und drei Viertel in Ostmark, und das bei einem Wechselkurs von eins zu sechs, da bleibt gerade so viel, um dem westlichen Lotterleben zu verfallen.«
Philipp bekam seinen Interzonenpass. Er musste ihn bei den Sowjets in Karlshorst abholen. Im Büro dort sagte man ihm, dass ein Offizier ihn noch sprechen wolle, und brachte ihn in ein Nebenzimmer. Der Offizier kam, forderte Philipp zum Sitzen auf und stellte ihm in gutem Deutsch Fragen über Westdeutschland, besonders über seine Heimatstadt Duisburg. Philipp berichtete, was er wusste und was nicht sehr weit über sein Heimatkundewissen hinausging, das er im Unterricht in der Volksschule mitbekommen hatte.
»Können Sie mir einen Stadtplan von Duisburg mitbringen?« fragte der Offizier.
Philipp sah seinen Interzonenpass auf dem Schreibtisch liegen und hätte noch mehr dafür zugesagt. Aber der Offizier war zufrieden, gab ihm den Pass und wünschte eine gute Reise.
Komisch, dachte Philipp auf dem Heimweg, die werden für ihren berühmten Geheimdienst doch wohl nicht auf mein Wissen über Duisburg und auf eine von mir gekaufte Karte angewiesen sein. Er machte sich aber keine weiteren Gedanken darüber, sondern freute sich auf die Ferien, auf die Reise in seine Heimat und auf die Menschen dort.
9
Im Lokal »Zur Sonne«, gleich neben der Zeche gelegen, war an den Wochenenden Tanz. Wenn Paul nicht zur Schicht musste, konnte er mit seinen Kumpeln zum Tanzen gehen. Im Unterschied zu den meisten war er kein großer Fußballfreund, so dass ihm mit seinen bald zwanzig Jahren das Tanzen als eine der wenigen Vergnügungen blieb.
Manchmal, wenn er von der Frühschicht in die Nachtschicht wechselte und das freie Wochenende bevorstand, holte er sich ein Buch aus der Leihbücherei. Er las gerne Geschichten von den Menschen in früheren Zeiten. Als ihm einmal der Kassierer vom Knappenverein verbilligte Karten für das Duisburger Stadttheater anbot, fragte Paul, was denn in so einem Theater gespielt würde.
»Parsifal, eine Oper von Richard Wagner«, sagte der Kassierer und erklärte Paul, dass die Oper von Rittern handelte, die auf einem Berg einen kostbaren Stein bewachten, der ihnen von Engeln gebracht worden sei. Ein Zauberer wollte den Stein stehlen.
»Hast du schon Karten verkauft?«, fragte Paul.
»Nein, noch nicht.«
»Dann komm wieder, wenn du die erste Karte verkauft hast.«
Der Kassierer kam aber nicht wieder. Bald danach hörte Paul, dass die Stadtverordneten von Hamborn für ein eigenes Theater in ihrer Stadt gestimmt hatten.
Der Kaiser war nach Holland geflohen; sie lebten jetzt in einer Republik. Aber vier Jahre nach dem Ende des Krieges war für die Bergarbeiter immer noch keine Verbesserung des Lebens in Sicht. Es gab zwar für die unter Tage Beschäftigten zusätzliche Brot- und Margarinerationen, dafür mussten sie aber sechs Stunden in der Woche länger Kohle hauen, damit die Reparationslieferungen an Frankreich erfüllt werden konnten. Den Mehrverdienst, so fand Paul, konnte man sich in den Kamin schreiben, so schnell stiegen die Preise. Außerdem musste er das meiste von seinem Lohn sowieso zu Hause abliefern.
Ferdinand arbeitete nicht mehr auf der Zeche. Guste war einen Monat vor dem Ende des Krieges an Magenkrebs gestorben. Gleich nach ihrem Begräbnis hatte Ferdinand auf der Zeche gekündigt, und seitdem lebten sie von dem, was Paul und Johanna heimbrachten.
Johanna ging seit ihrem vierzehnten Lebensjahr putzen. Sie hätte gerne eine Stelle als Hausmädchen in einem Haushalt in der Stadt angenommen, aber Ferdinand erlaubte es nicht. Sie musste ja auch noch zu Hause arbeiten.
Emma war gerade aus der Volksschule entlassen worden und hatte eine Lehrstelle als Verkäuferin in einer Schlachterei bekommen. Aber damit konnte sie noch nicht viel zum gemeinsamen Haushalt beisteuern, von einigen Knochen mal abgesehen, die sie hin und wieder von dem Meister, der sie gut leiden mochte, geschenkt bekam, und von denen sie zu Hause eine Suppe kochen konnten. Sonst aber kostete Emma nur.
Ferdinand hatte inzwischen neben der Scheune aus billig erworbenen Brettern einen Schuppen gebaut. Auf der Wiese richtete er einen Auslauf ein. Den Draht dazu konnte er günstig gegen das Schaf eintauschen. Schuppen und Auslauf nannte er seine Hühnerfarm. Einige Hühner bekam er nach und nach für seine Hilfe bei einem Bauern, weitere züchtete er selber.
Wenn Paul und seine Kumpel zum Tanzen gingen oder nach der Schicht auf ein Bier, um den Kohlenstaub herunterzuspülen, sagten sie nicht, sie gingen »Zur Sonne«, sondern zu Hermann. Hermann Hülsken war der Wirt. Rundlich, von geringer Körpergröße, mit kurzen Armen und Wurstfingern war er lebhaft, lustig und bei den Kumpeln beliebt. An den Tanzabenden spielte Hermann den jungen Leuten mit dem Akkordeon auf, während seine Frau hinter dem Tresen stand und das Bier zapfte. Sie war ein ganzes Stück größer als Hermann. Hager, mit einem Habichtsgesicht und mit Basedow-Augen wachte sie über ihren Mann und darüber, dass in der Kneipe alles mit rechten Dingen und gesittet zuging und der Umsatz stimmte.
An den Sonntagabenden, wenn die jungen Arbeiter sich mit ihren Mädchen auf der Tanzfläche drehten, standen die älteren Kumpel in Hut und Mantel am Tresen, schauten dem Treiben zu und schüttelten die Köpfe über das »verrückte Gehopse«. Sie hatten am Morgen nach dem Kirchgang ihre Frauen zum Kochen heimgeschickt, wollten kurz beim Hermann vorbeischauen und dann nachkommen. Für ein Bier lohnte es aber nicht, Hut und Mantel abzulegen und sich hinzusetzen. So standen sie Stunde um Stunde am Tresen, tranken Bier, aßen zwischendurch mal eine Gurke oder eine Frikadelle von dem Angebot auf dem Tresen und lösten nebenbei die Probleme im Sportverein, auf der Zeche und in der Weltpolitik. Wenn Hermann gegen Mitternacht sein Akkordeon wegstellte und das Lokal abschließen wollte, gingen mit den letzten Tanzpaaren auch die Tresensteher heim.
Die meisten der Mädchen, mit denen die jungen Bergarbeiter sich zum Tanzen verabredeten, kannten sie schon aus ihren Kindertagen. Sie kamen wie sie selber aus der Alten Kolonie, oder sie waren aus der Neuen Kolonie. Paul war einer der wenigen, der nicht in einem Koloniehaus wohnte. Wenn die jungen Männer nach dem Tanzabend ihre Mädchen heimbrachten, so war es für viele kein großer Umweg und auch nicht weit. Um aber den Heimweg auszudehnen, gingen die Paare zuerst den entgegengesetzten Weg, vorbei an den Steigerhäusern und durch den Park, wo auch die Luft viel milder war und man die Sterne besser sehen konnte.
Manche der Mädchen erinnerten sich der Vorlieben früherer Verehrer, kannten die verschiedenen Bänke im Park, die stillen Orte dort und die Möglichkeiten sich zurückzuziehen. Einige Mädchen waren schon vor dem Kriege mit ihren Tanzpartnern hier, waren älter als ihre Begleiter und kannten sich bestens aus. Aber ihre Vorkriegspartner waren aus dem Krieg nicht heimgekehrt, und so taten sie gut daran, sich unwissend zu stellen und sich СКАЧАТЬ