Название: Gesang der Lerchen
Автор: Otto Sindram
Издательство: Автор
Жанр: Историческая литература
isbn: 9783927708464
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»Ich? Nein, warum?«
»Hier, lies!«
Und Philipp las: Lieber Christian, verzeih mir, aber es muss vorbei sein mit uns. Ich kann ohne Karl nicht leben. »Das muss ein anderer sein − Karl? Heißt nicht ihr Lehrer-Freund so?«, flüsterte er.
Christian wurde zornig.
»Dann ist das Weib uns untreu geworden, aber das lassen wir uns nicht gefallen!«
Er zerknüllte den Zettel und schlug mit der Faust auf den Tisch, so dass selbst Köhler aufmerksam wurde.
Für Mitte Mai 1949 waren in Ostdeutschland Wahlen zum Volkskongress vorgesehen. Dieser Volkskongress sollte den Volksrat berufen, eine Art Regierung. Einige in der Klasse waren am Tage vor der Wahl und an den beiden Wahltagen zur Wahlwerbung, andere an den Wahltagen als Helfer in den Wahllokalen eingeteilt. Christian und Philipp mussten auf dem Bahnhof Friedrichstraße aus dem Büro des Aufsichtsbeamten über Lautsprecher eine Wahlparole verbreiten. Immer wenn ein Zug abgefertigt und das Mikrofon frei war, durften sie es benutzen. Sie hatten einen Zettel mitbekommen mit der Parole: Wer für die Einheit Deutschlands und einen gerechten Friedensvertrag ist, der stimmt für die Kandidaten zum Deutschen Volkskongress. Stimmen Sie mit ja!
Abwechselnd lasen sie diese Parole, fanden sie aber bald so langweilig, dass sie versuchten, sie immer mehr zu variieren. Bald befanden sie sich in einem Wettbewerb um die beste Variante.
Zwischendurch, und wenn der Aufsichtsbeamte nicht im Büro war, nutzten sie die Zeit, um sich über ihre Erfahrungen mit den Frauen im Allgemeinen auszutauschen und wie man mit ihnen umgehen sollte, damit sie nicht übermütig würden und treu blieben. Als ihr Einsatz beendet war und sie sich von dem Aufsichtsbeamten verabschiedeten, bekamen sie kostenlos − wie er sagte − noch einen Tipp von ihm.
»Wenn ihr nochmal so etwas machen müsst, nicht so nahe ans Mikrofon gehen und nicht so schnell und so laut sprechen, das dröhnt sonst zu sehr und überschlägt sich. Von euren Parolen war nichts zu verstehen. Ihr müsst so normal sprechen wie zwischendurch, als ihr über die Frauen geredet habt, das konnte man gut verstehen.«
»Aber wir haben das Mikrofon doch immer ausgeschaltet!«, warf Philipp ein.
»Das nützt nicht viel, die Schaltung geht nicht mehr richtig. In diesem Laden funktioniert doch nichts. Vielleicht wird der Schalter ja repariert, wenn wir die Einheit Deutschlands und einen gerechten Friedensvertrag haben.«
Nach den beiden Wahltagen wollten einige der Wahlhelfer eine Nachbereitung in der Klasse veranstalten. Seiter opferte dafür einen Teil seiner Physikstunde.
Wilfried als Klassensprecher bat Studiendirektor Reitmann dazu. Reitmann kam und setzte sich gleich.
»Ich kann es mir nicht leisten zu stehen, dazu war ich zu lange im KZ. Nun denn, worum geht’s?«
Wilfried begann damit, dass er zusammenfassend die Erfahrungen − wie er sagte − aller Wahlhelfer der Klasse referierte: Viele Hausgemeinschaften seien geschlossen im Wahllokal erschienen, und für sie hätten die Hauswarte die Stimmzettel in einem Block in die Urnen geworfen; kaum einer sei in die Wahlkabine gegangen. Den Wahlhelfern sei es untersagt worden, die Leute zum Aufsuchen der Kabinen anzuhalten. Als sich bei der Auszählung der Stimmen abzeichnete, dass die Nein-Stimmen überwiegen würden, kam die Anordnung, die Auszählung neu zu beginnen und alle Zettel, bei denen einzelne Kandidaten durchgestrichen oder die Zettel mit Bemerkungen versehen oder gar nicht ausgefüllt waren, als Ja-Stimmen zu zählen.
»Überhaupt«, sagte Wilfried, »die Wahlzettel ließen einem doch keine Wahl. Man konnte nur ein Kreuz in einem Kreis neben einem großen JA oder neben einem ganz klein gedruckten Nein machen. Wenn einem eine Partei oder eine Person nicht gefiel, hatte man keine Möglichkeit, das auch zu äußern. Ist doch klar, dass die Leute da einzelne Kandidaten durchstreichen oder den Zettel mit Bemerkungen versehen.«
Wilfried ereiferte sich. Auf einem Wahlzettel habe groß und gut leserlich der Satz gestanden: Euch Banditen wähle ich nicht. Der Helfer habe den Wahlzettel vorgezeigt und gemeint, das sei ja nun wohl eindeutig eine Ablehnung. Das sei richtig, habe da der Wahlleiter gemeint, es sei eine Ablehnung der westlichen Scheindemokratie, denn mit den Banditen können doch wohl nur die Kriegstreiber aus Westdeutschland gemeint sein. Oder sehe das etwa jemand anders?
Reitmann hörte sich den Bericht ruhig an.
»Sind Sie fertig?«, fragte er Wilfried, stand nun doch auf und ging herum. »Es ist gut und richtig, dass Sie Ihre Bauchschmerzen äußern. Als junge Menschen haben Sie ein starkes Rechtsempfinden, das ist gut so, das sollen Sie auch haben. Aber Ihre Vorstellung von Demokratie, die ist falsch, da liegen Sie schief, liebe Freunde. Hitler ist durch eine demokratische Wahl an die Macht gekommen, denken Sie mal darüber nach. Man muss aus der Geschichte lernen können. Glauben Sie denn, dass 1945 über Nacht das Gift der Nazi-Ideologie verschwunden ist?«
»Das Volk wird umerzogen«, warf Wilfried ein.
»Darum geht es nicht«, sagte Reitmann und setzte sich wieder. »Aber wir müssen die vorhandenen fortschrittlichen Kräfte bündeln für den Aufbau einer antifaschistischen demokratischen Gesellschaft − unter Führung der Arbeiterklasse.«
»Und die Arbeiterklasse wird geführt von der Partei?«, fragte Philipp.
»Richtig, von der Partei der Arbeiterklasse, der SED, in der die Besten der Arbeiterklasse die Führung haben«, nickte Reitmann.
»Halt jetzt die Schnauze!«, flüsterte Christian Philipp zu. »Wenn du dein Abitur machen willst, dann halt dich da raus!«
Philipp wusste selber, dass er den Gedanken, letztlich liefe also wieder alles auf einen Führer hinaus, nicht laut äußern durfte.
Reitmann redete weiter. Er sprach von der proletarischen Demokratie, zu der man reif sein müsse. In dieser Demokratie könne es nicht wie in einer bürgerlichen Demokratie vorkommen, dass das Volk seine eigenen Totengräber wähle. Und darum sei es richtig, dass die Wahlzettel von Menschen, die zur Demokratie noch nicht fähig seien, als Ja-Stimmen gezählt würden.
Seiter stand abseits und hörte zu. Als Reitmann geendet hatte und gegangen war, setzte er den Physikunterricht fort.
»Dann wollen wir uns wieder den irdischen Dingen zuwenden. Ich möchte mit Ihnen noch eine Aufgabe durchsprechen, bei der es um die Berechnung einer Tangentialebene an der Kugel geht, zu deutsch: Brett vor dem Kopf.«
8
Dr. Kuhnert war mit Leib und Seele Lehrer. Trotz seiner kurzen Beine und seiner Körperfülle wirkte er sehr lebendig, hatte lebhafte Augen und eine schnelle Sprechweise. Man glaubte ihm sofort, dass er noch schneller dachte als er zu sprechen vermochte. Es war eindrucksvoll zu sehen, wie er mit dem ganzen Körper und besonders mit seinen Händen zu dozieren verstand.
Ebenso aufregend war sein Chemieunterricht, der mit vielen Experimenten angereichert war. Als er hörte, dass Philipp ein ausgebildeter Chemielaborant war, bat er ihn, bei den Experimenten zu assistieren. Kuhnert wollte gerne, dass Philipp, in der ersten Reihe sitzend, jederzeit einspringen konnte, wenn ein Experiment es erforderte.
Neben Ruth saß Inge, die sofort bereit war, in der Chemiestunde mit Philipp die Plätze zu tauschen. Inge war keine Schönheit, sie sah krank aus, war mager und blass, hatte fettes, strähniges СКАЧАТЬ