Название: Der blinde Spiegel
Автор: Günter Neuwirth
Издательство: Автор
Жанр: Историческая литература
isbn: 9783990402504
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Schachner hält inne und blickt um sich. Als er sieht, dass wir alleine sind, zieht er aus der Innentasche seiner Jacke eine kleine Broschüre.
„Lesen Sie das. Das ist mir in die Hände gekommen. Fast zufällig. Lesen Sie es und verbrennen Sie es sofort. Niemand darf wissen, dass Sie diese Broschüre je gesehen haben. Das ist ein Geheimpapier, verfasst von einer Abteilung des deutschen Propagandaministeriums. Es ist keine visionäre Schrift. Derzeit üben sich die Nazi-Intelligenzler in Deutschland in der Verwirklichung ihrer Visionen. Ein kurzer Bericht über den Einsatz von geheimen deutschen Truppenverbänden in Russland. Und einige Ausführungen über die Rolle des russischen Volkes in einem deutschen Reich, welches sich vom Ärmelkanal bis zum Ural erstreckt. Lesen Sie diese Schrift, und Sie werden verstehen, warum wir den Russen helfen müssen. Ich sage nur so viel: Versklavung und systematische Ausrottung.“
Ich lasse die Broschüre in meinem Rucksack verschwinden.
„Und was soll ich tun? Wer steht hinter Ihnen?“
„Ich kann nicht viel sagen, aber das Netzwerk steht schon fast. Ich bin nur ein Glied in der Kette und nicht einer der Köpfe. Stellen Sie sich ein Sammelsurium von pazifistischen Intellektuellen vor, von denen die meisten in Lagern gewesen sind. Jedes Kettenmitglied kennt nur die angrenzenden Glieder und trägt einen Decknamen. Ich bin Grillparzer. Und es gibt den Namen Neidhart. Mehr kann ich Ihnen nicht sagen. Unsere Möglichkeiten sind beschränkt, es geht nicht um militärische Informationen, da haben wir keinen Zugang, sondern um Wirtschaftsdaten. Das Ziel ist die Sowjetunion, aber der Weg führt über Prag. Und da kommt Nestroy ins Spiel. Nestroy ist eine Schaltstelle, jemand, der Nachrichten in drei Sprachen übersetzen kann. Deutsch, Tschechisch und Russisch. Dass Sie Deutsch und Tschechisch können, weiß ich, aber wie steht es mit Ihren Russischkenntnissen?“
„Verbesserungswürdig, aber ich habe Tolstoi und Dostojewski im Original gelesen und einigermaßen gut verstanden.“
„Das ist gut, das ist sehr gut. Valentin, Sie sind Nestroy. Wir brauchen Sie.“
„Und wenn ich Nein sage?“
„Bin ich traurig und muss weitersuchen. Aber ich verschweige Ihnen nicht, dass unsere russischen Freunde verärgert sein könnten.“
Ich bleibe stehen.
„Sie Hund, die knallen mich ab!“
„Weiß ich nicht. Wie gesagt, wir sind nicht so wichtig, wir liefern nur Wirtschaftsdaten. Aber möglich ist es.“
„Ich drehe Ihnen den Kragen um.“
„Eine Kugel mehr oder weniger ist in unserer Zeit egal, selbst wenn es um das eigene Leben geht. Oder nicht? Haben Sie etwas zu verlieren? Hängen Sie an etwas? Na also. Aber wenn Sie Nein sagen, abtauchen und schweigen, wird nichts geschehen. Ich helfe Ihnen. Das verspreche ich.“
„Auf so ein Versprechen pfeife ich. Und bevor ich Sie zum Teufel jage, noch eine Frage.“
„Ich höre.“
„Gibt es ein Zauberwort?“
Josef Schachner fixiert mich scharf, dann huscht ein dünnes Lächeln über sein von tiefen Falten zerklüftetes Gesicht.
„Ich habe gewusst, dass Nestroy kein Schwachpunkt sein wird. Wir leben im Schatten und arbeiten in der Nacht; das Zauberwort lautet: Schattennacht.“
KONSTANTINOPEL, FRÜHLING 1946
Anfangs hatte es noch einen gewissen Reiz gehabt, den Leuten die goldene Auszeichnung unter die Nase zu halten. Der Anblick der Auszeichnung half Meyendorff, die unzähligen neuen Gesichter einzuschätzen. Und er erlebte die gesamte Klaviatur menschlicher Regungen, Neid, Heuchelei, ehrliche Bewunderung, kollegiales Einverständnis, Ignoranz, alles, was man sich vorstellen konnte. Die Medaille provozierte, ein Blick in das Innere der Leute wurde möglich. Anhand dieses Blickes beurteilte Meyendorff die Offiziere, Soldaten, Beamten des Fliegerquartiers Süd. Aber mit der Zeit nutzte sich der Effekt ab, zum einen kannten viele Meyendorff bald, zum anderen maß er selbst dem Orden nicht mehr so viel Bedeutung bei.
Er stand im Gang vor der Kantine, zupfte an seinem Rock, öffnete den Nadelverschluss der Medaille und ließ das Ding in der Tasche verschwinden. Es war später Nachmittag, also würde in der Kantine nicht mehr viel los sein, dennoch wollte er nicht durch den Orden auffallen. Er wollte einfach nur einer von vielen sein, ein Bediensteter des Fliegerquartiers unter anderen.
Meyendorff versuchte sein Bein möglichst nicht nachzuziehen, sondern gerade und aufrecht zu gehen. Er zog an der Tür zur Kantine, der Geruch von gesottenem Gemüse strömte ihm entgegen. Wie üblich gab es irgendeinen Eintopf mit türkischem Gemüse. Meyendorff schätzte die türkische Küche sehr, aber wenn böhmische Köche mit türkischem Gemüse und Fleisch kochten, kamen meist keine besonderen Delikatessen dabei heraus. Aber satt wurde man davon. Immerhin. Nicht alle Soldaten des Kaisers wurden immer satt, in Mesopotamien etwa war die Versorgung jämmerlich.
Meyendorff bevorzugte es, seine Mahlzeiten in der Kantine zu sich zu nehmen, er mied das Offizierskasino, so gut es ging. In der Kantine war er anonym. Im Kasino tummelten sich die Etappenhengste, schlürften Schnaps und hatten stets den aktuellsten Soldatentratsch auf Lager. Hast du gewusst, dass Oberstleutnant Soundso ein Affärchen hatte? Der Feinspitz, jetzt ist er über der Ägäis abgeschossen worden. Hast du gewusst, dass Major Dieserundjener neulich zehntausend Kronen beim Hasard verspielt hat? Und so weiter. Meyendorff konnte wahrlich nicht behaupten, die Gesellschaft der Kasinoplatzhirsche wäre ihm angenehm. Da mischte sich der Herr Graf lieber unters Volk. Die einfachen Leute ließen ihn wenigstens in Ruhe. Dass er überall gemustert wurde, störte ihn nicht, daran war er gewöhnt. Die Offiziere munkelten natürlich über den jungen Graf von Meyendorff und seine Vorliebe für das niedere Volk in der Kantine, aber das war ihm auch ziemlich egal. Natürlich fand er so keine Freunde, natürlich blieb er so isoliert, aber gerade das wollte er ja. Er brauchte niemanden in seiner Nähe, zumindest keine Etappenoffiziere mit ihren Allüren.
Meyendorff zückte die Essensmarken, reichte sie der Küchenkraft, die im Gegenzug einen Teller mit einem dicken Eintopf auf ein Tablett stellte und es ihm zuschob. Er fasste in den Besteckkorb, nahm einen Löffel und trat an die Brotausgabe.
„Könnte ich bitte zwei Scheiben haben?“, fragte er den einarmigen Mann.
Strenge, graue Augen musterten Meyendorff. Der Mann hatte slawische Gesichtszüge und dunkles, grau durchzogenes Haar. Wahrscheinlich ein Kroate oder Bosniake. Falten schnitten tief in das Gesicht des Mannes, Falten, die zeigten, dass dieser Mann lange dem Tod näher als dem Leben gewesen war. Wortlos legte er zwei Scheiben Brot auf Meyendorffs Tablett. Danach stellte er einen Blechbecher mit kaltem Apfeltee dazu. Eintopf mit Brot, dazu Apfeltee, also irgendwie ein türkisches Mahl, dennoch aber ein österreichisches. Meyendorff nahm das Tablett und schlurfte davon. Er wusste, dass der Mann an der Brotausgabe ihm nachblickte, also vertuschte er unbewusst sein Hinken nicht. Der Krieg schlägt allen Wunden, egal ob kroatischer Kleinhäusler oder österreichischer Graf, der Stand war egal, solange man für das Vaterland Dienst leistete. Das signalisierte Meyendorff dem Mann, ohne darüber nachzudenken.
Er sah sich im Saal um. Vereinzelt saßen noch Leute herum. Sein Blick wanderte umher, da kreuzte ein Blick den seinen. Er erschrak. Ihm wurde heiß.
Da saß sie! Jawohl, da saß sie und schaute zu ihm herüber. Sie und zwei andere junge СКАЧАТЬ