Название: Der blinde Spiegel
Автор: Günter Neuwirth
Издательство: Автор
Жанр: Историческая литература
isbn: 9783990402504
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Eine halbe Stunde streifte Meyendorff ziellos durch die Gegend. Der Platz war hübsch, aber die Gassen dahinter offenbarten das Elend der Vorstadt. Schäbige Behausungen, anders konnte man es nicht nennen. Die Menschen hier waren bettelarm, wovon sie lebten, war ein Rätsel. Ganz so wie in allen europäischen Städten. Meyendorff hatte nirgendwo andere Vorstädte gesehen.
Er kam wieder auf den Platz und steuerte auf das Kaffeehaus zu. Im Schatten einiger Bäume standen kleine Holztische vor dem ein wenig schiefen Haus. Drei alte, verhutzelte Männer saßen mit dem Rücken zur Hausmauer nebeneinander. Sie schienen alle Zeit der Welt zu haben und durch nichts in ihrer Ruhe gestört werden zu können. Meyendorff grüßte mit einem Kopfnicken, die Männer erwiderten den Gruß. Er nahm den vordersten Tisch, nicht nur, um den Männern nicht zu nahe zu rücken, sondern auch, um den Platz gut überblicken zu können. Mühsam erhob sich einer der drei, warf sich ein nicht ganz frisches weißes Tuch über den Arm und schlurfte heran. Meyendorff war in seinem Leben häufig in Konstantinopel gewesen, auch in Smyrna und anderen türkischen Luftflottenstützpunkten, aber bis auf ein paar Brocken hatte er die türkische Sprache nicht erlernt. Nicht erlernen können. Nie hatte sich die Möglichkeit eines intensiven Sprachstudiums ergeben. Dabei hielt er sich selbst für talentiert. Schon im Volksschulalter hatte er Ungarisch gelernt und später auf der Kadettenschule perfektioniert. Weiters hatte er in Grundzügen auch Französisch und Kroatisch erlernt. Immerhin reichte sein Türkisch aus, um in Kaffeehäusern Bestellungen abzugeben. Meyendorff wusste, dass viele Türken nicht sehr glücklich darüber waren, dass sich österreichische, ungarische und deutsche Soldaten in ihrem Land aufhielten, denn mit ihnen ging der Krieg weiter, andererseits konnte man als Offizier die Herzen der Leute im Sturm erobern, wenn man sich bemühte, ihre Sprache zu sprechen, ihre Angewohnheiten zu respektieren und ihre Umgangsformen zu pflegen.
Meyendorff bestellte Apfeltee. Der alte Wirt verneigte sich und verschwand im Haus. Meyendorff versuchte nicht in das Innere des Hauses zu schauen, besser war, er vergegenwärtigte sich den hygienischen Zustand der Küche des Kaffeehauses nicht. Langsam entnahm er seiner Rocktasche das Zigarettenetui, fischte nach einer Zigarette und entflammte sie. Die Luft stand, dennoch war die Hitze erträglich. Es war erst Frühling, der Hochsommer würde schon noch die Gluthitze bringen.
Die Zeit lief. Meyendorff trank den süßen Apfeltee ohne jede Hast. Er passte seinen Atemrhythmus an den der drei alten Männer an. Die Zeit war nichts, der Tag unendlich, das Leben viel zu kurz und doch ewig in allen seinen Augenblicken. Er hatte die stoische Ruhe der Türken stets bewundert.
Später trank er eine zweite Tasse Apfeltee und rauchte noch eine Zigarette.
Eine Horde Kinder jagte mit Geschrei über den Platz und verschwand wieder.
Dann vernahm Meyendorff Motorenlärm. Er drehte den Kopf. Die Lastwagen kehrten zurück. Vor dem Barackenlager marschierten die Landsturmmänner und Frauen des Wachdienstes herüber. Meyendorff nickte dem Wirt zu und legte einige Münzen auf den Tisch. Er gab immer großzügig Trinkgeld.
Lärmend rollten die Laster über den Platz. Die Ladebordwände fielen krachend auf und Dutzende Frauen stiegen ab. Wieder war der Platz von durcheinanderwirbelnden Stimmen erfüllt. Meyendorff saß da und suchte in der Menge. Er war zwar recht weit entfernt, aber seine Augen waren ausgezeichnet. Für Piloten war es außerordentlich hilfreich, gute Augen zu haben. Er war nervös. War sie wieder nicht dabei? Sollte er jeden Tag hierherkommen? Machte er sich bei den Wachen nicht lächerlich, wenn er vor dem Mädchenpensionat wie ein streunender Kater herumschlich?
Da war sie!
Kurz hatte er ihr Gesicht gesehen. Sein Puls raste. Er erhob sich und ging entlang der Häuserzeile rund um den Platz. Die Frauen trotteten langsam in Richtung Barackenlager. Meyendorff suchte nach ihr, fand sie aber vorerst nicht. Hatte er sich getäuscht? Einige der Frauen bemerkten ihn und schauten neugierig herüber. Clarissas Augen waren dabei. Innerlich jauchzte Meyendorff vor Freude. Ihre Blicke trafen sich. Er blieb stehen und sah ihr nach, wie sie in der Menge vorwärtsschritt. Ihre Blicke trennten sich erst, als sich ein Haus zwischen sie schob. Wie schön sie war. Unbeschreiblich schön. Eine Prinzessin. Die Menschenmenge verflüchtigte sich, die Laster fuhren ab. Einige ältere Frauen standen noch tratschend bei den spärlich bestückten Warenkörben des Gemüsehändlers. Zwei Frauen des Wachdienstes waren unter ihnen.
Was sollte er tun? Wie würde er Clarissa jemals ansprechen können? Immer waren da neugierige Augen und Ohren. Wie würde er je mit ihr ins Gespräch kommen können?
Er wollte sich eben eine Zigarette anstecken, da huschte eine zierliche Gestalt um die Ecke und flog mit leichten Schritten an ihm vorbei. Clarissas vorwitziger Blick warf ihn beinahe um. Sie war gekommen!
Vor dem kleinen Fenster der Bäckerei blieb sie stehen und schien über das Angebot nachzudenken. Sollte sie ein großes oder zwei kleine Brote kaufen? Aber Meyendorff wusste genau, dass sie nicht wegen der Brote zurückgekommen war. Er trat an sie heran.
„Guten Tag, mein Fräulein. Ich habe die Ehre, Sie zu kennen. Erlauben Sie, dass ich Ihnen meine Aufwartung mache.“
Sie drehte den Kopf und lächelte ihn an.
„Guten Tag, Herr Oberleutnant.“
Sie reichte ihm ihre Hand. Meyendorff ergriff und küsste sie galant.
„Wenn Sie gestatten, es wäre mir ein Vergnügen, Sie beim Brotkauf zu begleiten. Oder darf ich es wagen, Ihnen einen kleinen Spaziergang vorzuschlagen?“
„Der Bäcker hat bis spät nachts offen. Ich muss das Brot nicht sofort kaufen. Aber in spätestens zwanzig Minuten muss ich durch die Sperre gegangen sein.“
Kurz schaute sie zu den älteren Frauen hinüber. Diese hatten sich offensichtlich zu einem Kauf entschlossen und waren im Begriff, ins Barackenlager zurückzugehen. Sie alle hatten den Oberleutnant und das Fräulein vor der Bäckerei gesehen.
„Die Hyänen werden uns bestimmt nicht aus den Augen lassen“, flüsterte sie.
Meyendorff konnte sehen, wie sich eine der zwei Wachfrauen von der Gruppe löste und sich in den Schatten eines Baumes stellte.
„Wir dürfen uns nicht vom Platz entfernen. Sonst rennt sie uns nach. Das machen sie immer so.“
Meyendorff räusperte sich.
„Ich will Ihnen keinerlei Schwierigkeiten bereiten, also schlage ich vor, wir spazieren hier ein wenig über den Platz. So ist allem Anstand doch hoffentlich Genüge getan.“
Er konnte nicht anders, er lächelte, wie er gewiss noch nie gelächelt hatte. War er jemals so voller Freude gewesen? Mit langsamen Schritten gingen sie über den Platz.
„Haben Sie gewusst, wann ich komme?“, fragte Clarissa.
„Nein, ich habe einfach gewartet.“
„Und mussten Sie lange warten?“
„Eigentlich nicht. Hier, in diesem Kaffeehaus, habe ich etwas Apfeltee getrunken. Eine Stunde. Ich hatte Glück.“
Er nickte unmerklich. Oh ja, er hatte wirklich Glück gehabt, unglaubliches Glück.
„Ist СКАЧАТЬ