Der blinde Spiegel. Günter Neuwirth
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Название: Der blinde Spiegel

Автор: Günter Neuwirth

Издательство: Автор

Жанр: Историческая литература

Серия:

isbn: 9783990402504

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СКАЧАТЬ und redete und redete. Vielleicht war es Wildenstein egal, ob Meyendorff zuhörte oder nicht, solange der Vortrag nicht gestört wurde. Und Meyendorff hörte nicht mehr zu, vielmehr lauschte er einem geflüsterten Namen. Clarissa Roth.

      „Ich hab dich etwas gefragt, Hermann!“, fauchte Wildenstein mürrisch.

      Er schrak aus seinen Träumen hoch, er blickte in die müden Augen des fünfundzwanzigjährigen Greises in seinem Zimmer.

      „Gehst du ins Bordell?“, wiederholte Wildenstein seine Frage.

      „Nein, gehe ich nicht. Also zumindest derzeit nicht.“

      „Zumindest, zumindest, ständig sagst du Nein und zumindest“, keifte Wildenstein.

      „In Wien war ich gelegentlich im Café Rosa in der Zirkusgasse.“

      „Und jetzt gehst du nicht?“

      Meyendorff griff zu einer Zigarette. Sein Hals fühlte sich kratzig an, eigentlich hatte er für drei Tage genug von Tabak, dennoch entflammte er die Zigarette. Er antwortete nicht auf Wildensteins Frage. Eine Minute herrschte Schweigen zwischen den Männern.

      „Und wie heißt sie?“, fragte Wildenstein lapidar.

      Eine Ewigkeit verstrich ehe Meyendorff antwortete.

      „Clarissa Roth.“

      Wildenstein kippte sein Glas.

      „Wie lange kennt ihr euch?“

      „Ich kenne sie nicht. Noch nicht.“

      Wieder verstrich eine Minute des Schweigens. Wildenstein streckte sich und angelte nach der Prothese. Er band die Gurte an den Beinstumpf. Er flüsterte.

      „Sie ist sehr hübsch, nicht wahr?“

      Es war zwar nicht unmöglich, dennoch schwierig, die Dienstzeiten von Angestellten anderer Abteilungen herauszubekommen. Meyendorff mühte sich schon den ganzen Vormittag, seine Kopfschmerzen und seine Ungeschicklichkeit bei verdeckten Ermittlungen zu überwinden. Die zwei Flaschen Raki, die Wildenstein mitgebracht hatte, war nicht der letzte Alkohol des gestrigen Abends gewesen. Wildenstein hatte Meyendorff solange beflegelt, bis sie schließlich gemeinsam in jenes Nachtlokal gegangen waren, in welchem sich die jüngeren Offiziere zu Besäufnissen einfanden.

      Wildenstein hatte die Korken knallen lassen. Raki, ungarischer Tokaier, Tiroler Obstler, kroatischer Slibowitz, der Alkohol war in Strömen geflossen. Das war das Leben in der Etappe, durchzechte Nächte mit Invaliden oder Drückebergern, billiger Tabak, Tristesse und Aufschneidertum, geheuchelte Siegeszuversicht und als patriotische Begeisterung getarnte Selbstsucht. Als sich die Trunkenbolde um Wildenstein für eine Wehrpflichtmusterung im Offiziersbordell gerüstet hatten, war es Meyendorff gelungen, sich abzusetzen. Wildenstein hatte zwar herumgemeckert und ihn einen traurigen Poeten genannt, aber er hatte nichts von seinem Wissen preisgegeben. Anderenfalls hätte Meyendorff nicht gezögert, ihn an Ort und Stelle zu erschießen. Aber Wildenstein war nicht der Mann, der Kameraden öffentlich bloßstellte, er beschimpfte zwar jeden, aber er verletzte nie die Ehre eines Mannes. Alleine deswegen pflegte Meyendorff Kontakt zu ihm.

      Unmöglich war es nicht, aber die Schwierigkeiten drohten ihm den Schädel zu sprengen. Die Kopfschmerzen schaukelten sich mit jedem Telefonat noch auf, bis Meyendorff seine Aktivitäten beendete. Ergebnislos. Er hatte Clarissa Roths Dienstplan nicht herausfinden können, also widmete er sich wieder seinen Listen.

      Draußen vor der Tür seines winzigen Büros klapperten Schreibmaschinen und Fernschreiber, klingelten Telefone, zuckten gedämpfte Stimmen durcheinander. Was war das doch für eine einfache Sache, einen viermotorigen Bomber tief ins Feindesland zu fliegen, im Vergleich mit dem Ausfüllen von Tabellen und Formularen. Wie leicht war dieser gewaltige technische Organismus Flugzeug zu beherrschen im Vergleich zu den bürokratischen Abläufen der Militärverwaltung. Meyendorff spitzte mit dem Taschenmesser einen Bleistift. In Wahrheit war das seine Hauptbeschäftigung, das Spitzen der Bleistifte. Spitz wie deutsche Vergeltungswaffen waren seine Bleistifte, bloß lagen die Bleistifte in ihren Munitionsmagazinen, während die Vergeltungswaffen auf englische Städte und Fabriken niederstürzten. Meyendorff begutachtete den Bleistift von allen Seiten, wunderte sich über diesen merkwürdigen Vergleich, schüttelte den Kopf und legte den Bleistift zur Seite.

      Ihm fiel ein Gesprächsfetzen des gestrigen Abends ein. Ein paar Leutnants hatten stockbesoffen vom Mädchenpensionat des Fliegerquartiers gesprochen. Mädchenpensionat, so hatten sie das Barackenlager am Rande Konstantinopels genannt, in dem ein Großteil des weiblichen Personals des Fliegerquartiers untergebracht war. Wahrscheinlich logierte Clarissa Roth dort. Meyendorff griff zum Hörer und ließ sich von der Vermittlung verbinden. Es dauerte beinahe zehn Minuten, bis die Verbindung hergestellt war, aber endlich erreichte er den Wachdienst des Barackenlagers.

      „Hallo, hier spricht Oberleutnant von Meyendorff, Fliegerquartier Süd. Ich hätte gern eine Auskunft. Ja, ich warte.“

      „Ja hallo, ich hätte gerne Auskunft in einer privaten Angelegenheit. Können Sie mir sagen, ob und wann ich Fräulein Clarissa Roth antreffen kann. Ja, eine private Angelegenheit. Von Meyendorff mein Name. Habe ich schon gesagt. Ich bin ein Bekannter der Familie und soll Empfehlungen von ihrem Onkel überbringen. Hören Sie nicht zu? Eine private Angelegenheit, nicht dienstlich. Also bitte. Ich weiß nicht, ob sie bei Ihnen untergebracht ist, sonst würde ich nicht anrufen, sondern gleich kommen. Ich bitte Sie, hören Sie doch zu. Blicken Sie nur einmal auf Ihre Listen und sagen Sie mir, ob Fräulein Clarissa Roth bei Ihnen untergebracht ist. Ja, ich warte.“

      Meyendorff war genervt, zuerst unzählige Versuche, überhaupt eine Leitung zustande zu bringen, und dann dieser Hornochse von Adjutant. Die Zigarette war in seinen Fingern beinahe verqualmt, ehe sich am anderen Ende der Leitung jemand rührte.

      „Hallo, ja ich höre. Wie bitte. Sie ist derzeit nicht im Lager, sie ist im Dienst. Um sieben Uhr hat sie sich abgemeldet? Jawohl, Sie haben mir sehr geholfen. Natürlich, also notieren Sie. Oberleutnant von Meyendorff in einer privaten Angelegenheit. Haben Sie es notiert? Ich sage Ihnen noch meine Dienstnummer, damit auch alles seine Richtigkeit hat. Brauchen Sie nicht. Gut. Danke sehr. Auf Wiederhören.“

      Meyendorff legte auf und lehnte sich zurück. Sein Blick schweifte ins Leere. Clarissa Roth.

      Er bezahlte den Fahrer. Dieser redete gestenreich, er schien etwas erklären zu wollen, aber Meyendorffs Türkischkenntnisse reichten nicht, um den Mann zu verstehen. Das Getriebe krachte, der Wagen fuhr los und verschwand. Er blickte sich um. Ein einigermaßen hübscher Platz, niedrige Häuser, ein paar Läden, ein Kaffeehaus und drei Palmen in Mitte des Platzes. Links zweigte eine Straße ab, die hinaus auf das Land führte. In der Ferne sah er ein paar zerbombte und ausgebrannte Häuser. Die letzten schweren Luftangriffe auf Konstantinopel waren über ein Jahr her. Wahrscheinlich war ein Bomber abgedrängt worden und der Bombenwerfer hatte die Bomben in Panik irgendwo ausgeklinkt, anderenfalls wäre es nicht erklärbar, weshalb man so ein unwichtiges Viertel angriffen hatte. Hier gab es keine Industrie und keine militärischen Stützpunkte. Ein paar Hundert Schritte trennten ihn vom Eingang zum Barackenlager. Er sah zwei Soldaten vor einem Gittertor Wache schieben. Auf dem Platz tummelten sich Leute. Vor allem junge Frauen. Meyendorffs Blick tauchte in die Menge. Mit vorsichtigen Schritten näherte er sich dem Auflauf bei drei Lastwagen.

      Österreicherinnen. Auf dem Weg zu ihren Arbeitsplätzen. In strenger Ordnung, kontrolliert von uniformierten Frauen des Wachdienstes und einigen Landsturmmännern kletterten die Frauen auf die Ladeflächen der Laster. Meyendorff suchte nach einem Gesicht in der Menge. Ein türkischer Korporal СКАЧАТЬ