Название: Der blinde Spiegel
Автор: Günter Neuwirth
Издательство: Автор
Жанр: Историческая литература
isbn: 9783990402504
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Nun blinzelten die anderen beiden Frauen zu ihm herüber und musterten ihn neugierig. Wenn er noch länger ratlos herumstünde, machte er sich lächerlich, also schritt er los. Je näher er dem Tisch kam, desto heftiger pochte sein Puls. Er wusste wirklich nicht, wie er es schaffen sollte, das Wort zu erheben, aber irgendwie klappte es doch.
„Entschuldigen Sie bitte. Ist an diesem Tisch noch ein Platz frei?“
Er zitterte innerlich, als ihm das Fräulein ein strahlendes Lächeln schenkte. Wie glücklich musste ein Mann sein, den morgens dieses Lächeln begrüßte. Er konnte seinen Blick nicht von ihr abwenden.
„An den anderen Tischen sind noch mehr Plätze frei“, plapperte eine Stimme ebenso kokett wie herausfordernd.
Meyendorff löste mit Mühe seinen Blick von dem Fräulein. Er wandte sich der Sprecherin zu.
„Ich wollte natürlich nicht aufdringlich sein. Wenn Sie lieber alleine zu speisen gedenken, suche ich anderswo einen Platz.“
Die Sprecherin war gewiss nicht älter als zweiundzwanzig. Sie war von großer Statur, nicht gerade hübsch, aber auch nicht hässlich. Ein Mädchen mit losem Mundwerk, wohl nicht dumm oder ungeschickt, aber für Meyendorff völlig uninteressant. Außer natürlich sie stellte sich zwischen das Fräulein und ihn.
„Sie können sich gerne setzen, Herr Oberleutnant“, sagte sie. „Wir sind schon fertig und müssen wieder los.“
Meyendorff blickte erst jetzt auf die Tabletts auf dem Tisch. Tatsächlich, sie hatten ihr Mahl schon beendet. Die drei jungen Frauen erhoben sich.
Kurz entschlossen stellte er sein Tablett ab, ging um den Tisch herum auf das schöne Fräulein zu und nahm Haltung an.
„Gestatten Sie, dass ich mich vorstelle. Von Meyendorff. Hermann von Meyendorff.“
Sie reichte ihm verlegen lächelnd die Hand, er ergriff und küsste sie.
„Clarissa Roth“, flüsterte sie.
Dann trugen die drei jungen Frauen ihre Tabletts fort. Im Gehen tuschelten sie miteinander.
Clarissa Roth. Jetzt kannte er ihren Namen. Clarissa Roth. Immer wieder sagte er ihn still vor sich hin. Clarissa Roth. Und wie strahlend schön sie lächelte!
Meyendorff sah nicht, dass alle Anwesenden in der Kantine die Szene genau verfolgt hatten. Er setzte sich und aß, ohne zu bemerken, dass er aß. Langsam und versonnen löffelte er den Eintopf. Fortwährend klang der leise Hauch ihrer Stimme in seinem Ohr. Clarissa Roth.
„Das kann ich dir schon sagen, Hermann, wenn man alles zusammenrechnet, ist der Krieg nichts anders als eine Täuschung. Eine Illusion. Man bildet sich den ganzen Zirkus bloß ein. Die Waffen, die Flugzeuge, die Ehre, die Tapferkeitsmedaillen, das ist alles Einbildung. Das einzig Wirkliche am Krieg sind diese Dinger hier. Das ist alles.“
Meyendorffs Gast zeigte auf die Beinprothese, die auf dem Teppich lag.
Die Luft im Zimmer war zum Schneiden, dicke Rauchschwaden nebelten alles ein. Die beiden Männer rauchten dennoch im Eilzugtempo weiter. Hauptmann Werner Freiherr von Wildenstein-Glawogger hatte zwei Flaschen Raki und türkische Zigaretten mitgebracht. Meyendorff füllte erneut die Gläser.
„Diese Bude hier, dieses stinkende Kaff, die Hitze, das brackige Wasser am Bosporus, das ist alles nur Mumpitz. Dein lächerlicher Orden da auf dem Tisch ist wertloser Kram. Du warst in der Zeitung, Herr Oberleutnant? Na bravo! Du bist in der ganzen Monarchie berühmt? Sehr gut, Herr Graf! Sehr gut! Heute bist du berühmt, weil du Glück gehabt hast, wo andere Pech hatten, aber morgen bist du tot. Du kriegst eine ehrenvolle Nennung in der Zeitung und hopp, vergessen bist du. Das ist sogar die bessere Variante für dich. Die schlechtere ist, wenn du ein Krüppel bist. Helden mit zwei Armen, zwei Beinen und einem feschen Gesicht gehört die Welt. Helden im Rollstuhl mag man gar nicht. Die will man vergessen. Und die sogenannte Öffentlichkeit vergisst Helden, denen irgendwo ein Körperteil abhandengekommen ist, verflucht schnell. Das Dumme daran ist, dass die Helden noch leben, als Krüppel zwar, aber sie leben. Und sie können nicht vergessen.“
Mit stoischer Ruhe ertrug Meyendorff die bitteren Worte seines einzigen Freundes in Konstantinopel. Er wusste noch sehr gut, wie der damalige Rittmeister von Wildenstein mit einer Etrich E-100 von Luftsieg zu Luftsieg geflogen war. Wildenstein war der erste österreichische Jagdpilot, der mit einem Düsenflugzeug über einhundert Abschüsse erzielt hatte. Insgesamt gehörte er mit 147 Abschüssen zu den größten Fliegerassen der k. u. k. Luftflotte. Als er selbst zum vierten Mal abgeschossen worden war, war es nicht so glimpflich wie die drei Male zuvor ausgegangen. Dem Heldentod knapp entkommen, war sein linkes Bein nicht mehr zu retten gewesen. Meyendorff hatte es immer wieder erlebt, manche Männer konnten nach einer Amputation ungeahnte Kräfte und Energien freisetzen, sie gierten nach dem flüchtigen Leben, die meisten allerdings wurden bitter. Wildenstein gehörte zur zweiten Gruppe, er war voller Wut auf sich und die Welt.
Wildenstein griff nach dem Glas und kippte den Raki rasch hinunter. Er verzog das Gesicht, heiß brannte der Schnaps in der Kehle. Dann langte er nach den Zigaretten.
„Los, Herr Oberleutnant, rauch noch eine. Das ist ein Befehl!“
Wildenstein sog den Qualm kräftig ein.
„Das Einzige, was einem Krüppel noch Spaß macht, ist guter Tabak und starker Schnaps. Zum Teufel damit!“
Meyendorff starrte auf die Beinprothese, die Wildenstein abgeschnallt und mitten auf den Teppich geworfen hatte. Er dachte an sein verbranntes Bein. Unwillkürlich griff er danach, gleichsam um sich zu versichern, dass die Prothese nicht doch ihm gehörte. Wildenstein verfolgte die Bewegung.
„Und, hast du Schmerzen?“
Meyendorff schreckte ein wenig hoch, ihm war seine Bewegung gar nicht bewusst gewesen.
„Nein, nein. Zumindest jetzt nicht.“
Wildenstein schnippte die Asche achtlos auf den Teppich. Ihm fiel so etwas gar nicht auf, genauso wenig wie ihm auffiel, dass seine Uniform längst einmal gereinigt gehörte, dass er einen Haarschnitt und eine Rasur brauchte, dass seine Fingernägel geschnitten werden sollten. Sehr nachlässig wirkte der Hauptmann, auf dessen Brust alle nur erdenklichen Orden glitzerten.
„Du hast Schwein gehabt, Hermann, riesiges Schwein. Brandwunden heilen, Narben bleiben, aber du bist nicht beschädigt. An dir ist alles dran. Du hast großes Schwein gehabt.“
Wildenstein inhalierte und hielt den Rauch lange in der Lunge, ehe er ihn wieder ausblies.
„Nur wie lange wirst du Schwein haben? Irgendwann schicken sie dich wieder hinaus. Irgendwann sitzt du wieder in deinem Bomber und wirst kein Schwein haben. Das ist das Gesetz des Krieges. Und wenn dich das Schwein verlässt, du aber Schwein hast, wirst du tot sein. Wenn du aber doppeltes Pech hast, wirst du ein Krüppel sein. Prost.“
Meyendorff war betrunken, was ihm half, das ewige Gejammer des Hauptmannes mit der Prothese nicht zu hören. Er dachte an Clarissa. Er dachte an die gestrige Begegnung in der Kantine. Er dachte an ihr Lächeln. Noch nie waren seine Gedanken von einem Fräulein so gefesselt gewesen. Er konnte es nicht anders СКАЧАТЬ