Aus: H. R. Giger ARh+. Taschen: Berlin 1991, S. 67.
Die Zeichnung zeigt in der linken oberen Ecke ein Neugeborenes, das aus dem Schoß seiner Mutter schlüpft. Es wird abgenabelt und in das Spannungsfeld der menschlichen Gesellschaft – symbolisiert durch den Tischfußballkasten – gestellt. Dort lernt es, die verlorene Geborgenheit durch Kampf und Härte zu kompensieren. Die Abspaltung aus der ganzen Fülle des Seins – die Geburt – ist der Beginn des Lebensweges als Individuum. Dieses ist gezwungen, sich mit anderen Teilen des Ganzen zu verbinden, um im kurzen Augenblick der Verschmelzung ekstatisch die verlorene eigene Ganzheit wieder zu erfahren. Wir sehen dies bildhaft dargestellt, indem jeder Schuss ins Tor gleichzeitig ein Schwängern der Frau ist. Die Sexualität ist nicht nur ein Mittel der Zeugung und der Lust, sondern in ihr verbirgt sich die metaphysische Absicht, die Spannung unerlöster Sehnsucht weiterzugeben und dadurch die Welt in ewiger Bewegung zu halten.
I DER MAGIER
Der Mensch kann zwar tun, was er will;
Aber er kann nicht wollen, was er will.
Arthur Schopenhauer
Die Karte
Auf dem Bild ist es die Guillotine, die den Magier mit seiner Zukunft – dem Tod – verbindet, denn in der Personifizierung des Urprinzips männlicher, zeugender Kraft begegnet er, sozusagen Auge in Auge mit dem Leben, unweigerlich auch dem Tod. Das Stirb ist die Grundlage des Werde, eine Dialektik, die durch die chthonischen Ungeheuer in der Kopfaura des Magiers bildhaft dargestellt wird. Sie werden aus der Auflösung des Ichs im Tode geboren. Doch ist er unfähig, dies zu erkennen, weil er die Augen nach oben verdreht. Er verdrängt, dass er die Welt immer nur so sieht, wie er sie sehen will. Damit schützt er sein Ego vor dem Anblick der Wahrheit. Würde er sich selbst ins Auge blicken, müsste er erkennen, dass er nur immer vor sich selbst davonläuft: ist der Tod doch nur das gespiegelte Bild im Spiegel des Bewusstseins, der Gespiegelte aber ist er selbst.1
Kehrt man das Bild um, sieht man im Messer der Guillotine den Tod widerscheinen. Der Tod ist nicht nur das Ende, sondern auch der Anfang des Lebens, denn es ist nicht der Tod, der tötet, sondern das Leben! Nur weil es Leben gibt, erhält auch der Tod einen Sinn im Schöpfungsplan. Indem der Magier diese Wahrheit in der Blüte seiner Schöpferkraft verdrängt, läuft er sehenden Auges und doch blind durch das Leben: damit aber auch in den Tod, denn Leben ist konsequent betrachtet nichts weiter als ein Prozess, der auf das Sterben zuläuft, wenn er ohne volles Bewusstsein der Wahrheit verläuft.
Psychologisch gesehen verkörpert der Magier den Helden, der sich nach seinem Willen und seiner Vorstellung die Welt erschafft. Aus der Gewissheit des Ich bin erwächst das Ich sehe, das mehr ist als ein reines Aufnehmen der Welt in das Bewusstsein. Aus den Signalen, die durch das Nervensystem empfangen, verarbeitet und übermittelt werden, gestaltet die Psyche ein Bild der Welt, das sich aus dem Blickwinkel des Individuums erschließt. Paradoxerweise schließt dieser Blickwinkel das eigene Ich nicht in sich mit ein. So ist der Magier nicht in der Lage, zu erkennen, dass er die Welt nur durch die Bilder erfährt, die er sich selbst geschaffen hat. Er projiziert das seinem Bewusstsein zugehörige Inventar an Vorstellungen auf alles, was ihm von außen entgegentritt und reagiert dann auf sein Bild des Geschehens anstatt auf das, was wirklich geschieht. Wenn er aber die in sich selbst geschaffene Welt zu hinterfragen versucht und ihr Bild als Bild entlarven will, befindet er sich in einer aussichtslosen Situation: Er müsste gleichsam seiner eigenen Wahrnehmung entfliehen, um die Welt so zu erkennen, wie sie ist.
Er kann aber seinem eigenen Denken nicht entfliehen. Stets durchdringt und färbt es das, was er sieht: Er ist nicht der Schöpfer selbst, sondern das Ebenbild, das sich Gott erschafft – nicht die Schöpfung, sondern das Bewusstsein, das sich selbst und die Welt nach ihrem eigenen Bilde wahrnimmt.
Die traditionelle Auslegung
Diese Karte stellt klar, dass nun der Kreislauf des Lebens in Gang gesetzt ist. Alle folgenden Karten zeigen die Auswirkungen, die durch die Ich-Werdung ausgelöst werden, die der Magier symbolisiert. Dem Gesetz zyklischen Geschehens entsprechend endet der gesamte Schöpfungsvorgang in den entpersonalisierten Nebelfeldern des Narren – nur um in einer abermals kreisförmigen Bewegung wieder aufs Neue zu beginnen. Durch die Kraft des Willens füllt der Magier das Vakuum des Narren mit Sinn, Energie und Leben. Mythologisch gesprochen: Er bewirkt, dass das „kosmische Ei“ (XXI Das Universum) aufbricht und das Ich entschlüpfen kann, damit es sich selbstbewusst in den Mittelpunkt der Schöpfung stellt: Ich bin ist hier keine Floskel, sondern der Ausdruck einer sich selbst strukturierenden und in sich selbst zentrierenden, universellen Gesetzmäßigkeit des Werdens.
Das Geheimnis des Magiers
lm gedanklichen Bereich dieser Karte ist die Ich-Verkörperung und Selbst-Durchsetzung angesprochen, die die Initialzündung für den Prozess der Bewusstwerdung liefert. Das Ich des Magiers ist durch das „Schwarze Loch“ des Unerschaffenen, raumzeitlosen Nicht-Seins, das der Narr umkreist, hindurchgetreten. Der Mensch beginnt, sich ein Bild von sich selbst – und damit von der Welt – zu machen. Verkörpert der Narr die diffuse Leere, die noch keine Dualität kennt, dann symbolisiert der Magier die Abgrenzung der Personalität vom Allumfassenden und Allgegenwärtigen. Er ist also der Bote dessen, was wir die langsam aufkeimende und stetig wachsende Bewusstwerdung tief im Unbewussten nennen können. Damit entspricht er dem aus dem Paradies des ganzheitlichen kosmischen Bewusstseins ausgegrenzten, singulären Gedanken. In die Polarität von Subjekt und Objekt hineingeboren, stellt das Ich sich selbst in den Mittelpunkt der Welt, um die lange Reise anzutreten, an deren Ende die Erkenntnis der Wahrheit stehen wird: dann nämlich, wenn es die Projektionen seines Bewusstseins, die seine Vorstellung der Welt bestimmen, überwunden hat und sich als Schöpfer seines Traums erkennt!2
Dies ist die erste Stufe der Entwicklung von Universum und Mensch, die mythologisch als Verlust des Paradieses, als Abspaltung von Gott bezeichnet wird. Sie entspricht auf der kosmischen Ebene der ersten Aktualisierung des Potentials der Urenergie und auf der Ebene des Individuums der Strukturierung der Urmuster des Unbewussten durch den kollektiven Menschengeist. Damit befindet er sich unwiderruflich auf jener Entdeckungsreise, auf der er die Welt als das gespiegelte Bild in einem Spiegel, den Spiegel selbst aber als das Symbol des kreativen Willens erkennen lernt. Das ist der erste Schritt des Ego, die karmischen Verwebungen der Seele aus den Tiefen der Ewigkeit in einen neuen Schöpfungszyklus einzubringen, an dessen Ende die innere Erlösung steht.
Die entschlüsselte Karte
Wenn der Narr das unbewusste Träumen ist, dann ist der Magier der bewusste Träumer seines Traums (Ich). Indem der Magier verdrängt, dass er alles immer nur so sieht, wie er es träumt, schützt er sich selbst vor seinem eigenen Erwachen. Denn würde er erwachen, müsste er die Relativität seines eigenen Handelns erkennen, und das würde die Grundfesten zerstören, auf denen er sein Weltbild erbaut hat. Damit dies nicht eintritt, schützt er sich durch gedankliche Modelle und gefühlsmäßige Muster, die er zur Wirklichkeit erklärt (IV Der Herrscher), zur Religion erhebt (V Der Hohepriester) oder in deren spirituellen (oder vermeintlich spirituellen) Ausformungen er die Wahrheit wähnt (IX Der Eremit).
Zusammenfassung
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