Название: Rattentanz
Автор: Michael Tietz
Издательство: Bookwire
Жанр: Языкознание
Серия: Edition 211
isbn: 9783937357447
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Ohne den Blick von der offensichtlich abstürzenden Maschine zu lassen, stieß Mettmüller dem neben ihm sitzenden Nussberger den Ellenbogen in die Rippen. Dessen Knurren beantwortete er mit einem stummen Nicken nach Nordosten. Eugen Nussberger blinzelte. »Hab meine Brille vergessen«, brummte er und beendete den Satz mit produktivem Räuspern.
»Da! Da hinten, das Flugzeug!«
Jetzt wurden auch Bubi und Uwe Sigg aufmerksam. Im Gegensatz zu Nussberger erkannten sie sofort was Mettmüller meinte.
»Oh Scheiße! Die kommt direkt auf uns zu!« Bubi vergaß seine Kamera. Einen Moment starrte er mit offenem Mund auf das Flugzeug, dann hämmerte er wie wild mit beiden Fäusten gegen das Fahrerhaus.
»Vater! Vater, bleib stehen!«
»Was ist denn?« Ohne vom Gas zu gehen, öffnete Faust das schmale Schiebefenster zur Ladepritsche.
»Da hinten, Vater! Da kommt noch ein Flugzeug runter!« Bubi gestikulierte zu dem Airbus hin, die Aufregung machte seinen Mund trocken. Er hatte Angst.
Faust fuhr rechts ran. Er stieg aus und was er sah, versorgte ihn zeitgleich mit einem Kloß im Hals, feuchten Händen und einem Kribbeln im Bauch, welches keine Frau der Welt jemals hätte auslösen können. Die von Mettmüller entdeckte Maschine raste direkt auf sie zu und es konnte sich nur noch um Sekunden handeln, bis sie entweder über oder aber in ihre Köpfe rasen musste!
Aus dem Dorf folgten zwei Fahrzeuge, ebenfalls mit potenziellen Helfern beladen. Sie stoppten auf Fausts Winken hinter dessen Pickup. Aus einem der Wagen sprang Christian Stadler auf die Straße. Stadler, dreißigjähriger Elektriker und klapperdürr, schob seinen Hut in den Nacken und stemmte in Wildwest-Manier die Hände in beide Hüften. »Gottverfluchter Mist!«, brüllte er. »Die Kiste wird uns allen gleich die Ärsche aufreißen!«
»Wir sollten machen, dass wir hier wegkommen!«
»Dazu dürfte es zu spät sein.« Nussberger ließ, von der auf ihn zurasenden Maschine paralysiert, zum ersten Mal seit Jahren eine Zigarre im Mundwinkel ausgehen. Er starrte dem Airbus entgegen, in dem Eckard Assauer neben Tochter und Enkel saß. Nussberger und die anderen konnten nichts tun, weder verhindern noch fliehen. Sie konnten nur noch hoffen.
Die in Berlin gestartete Maschine, in der Eckard Assauer saß, befand sich im Landeanflug auf Zürich. Neben der Crew befanden sich achtundachtzig Passagiere an Bord der nur zur Hälfte ausgelasteten Maschine. Den Männern im Cockpit war schnell klar, dass diese Situation sie und ihr einstudiertes Wissen überforderte. Bei Systemausfällen existierten im Hintergrund laufende Sicherheitsprogramme, die im Ernstfall automatisch zum Einsatz kamen. Außerdem gab es die Verbindung zum Tower, dessen Anweisungen folgend man sich zum nächstgelegenen Flughafen lotsen lassen konnte. All diese eingeübten Verhaltensweisen gingen allerdings davon aus, dass die Kommunikation mit einer Bodenstation möglich war und dass die Computersysteme wenigstens teilweise einsatzbereit waren. Aber um Punkt 07:00 Uhr wurde aus einem der meistverkauften Modelle der Airbusflotte ein schwankendes Segelflugzeug, welches sich kaum am Himmel halten ließ und in rasendem Tempo dem Boden näher kam.
Der Flugkapitän hatte den Passagieren die Situation erklären lassen und sie von seinem Vorhaben unterrichtet, segelnd den Züricher Flugha fen zu erreichen. Wie unrealistisch dieser Plan war und wie wenig er selbst an dessen Umsetzung glaubte, verschwieg er. Von Todesangst gelähmt, kamen die Passagiere seinem Befehl nach, verteilten sich gleich mäßig in der Maschine und blieben auf ihren Sitzen, um Gewichtsver lagerungen und damit Schwankungen der Maschine zu vermeiden. Äußerlich ruhig, saß Eckard Assauer neben seiner Tochter. Kevin erwachte.
»Was ist los, Opa? Landen wir?«
»Noch nicht, mein Schatz«, antwortete Sybilla. Ihr Vater streichelte seinen Enkelsohn. Assauer saß kerzengerade in seinem Sitz, hellwach registrierte er alles und sog den Moment in sich auf.
Sybilla Assauer-Brehm hatte Angst. Und sie konnte den Blick nicht von ihrem Vater lassen. Scheinbar unbeteiligt saß dieser stolz neben ihr und trotz − oder auch wegen − seiner siebzig Lebensjahre und der schulterlangen weißen Haare, die in einem ebenso weißen, kurz geschorenen Vollbart ihre Fortsetzung fanden, wirkte er wissend und stark. War er auf das vorbereitet, was allem Anschein nach bevorstand?
Er war der Mann, an den sie sich ihr Leben lang klammern konnte, der sie immer wieder gerettet hatte, der ihr zuhörte und sie bedingungslos liebte. Er war der Mann, der allen anderen Männern, die es jemals in ihrem Leben gegeben hatte, den Todesstoß versetzt hatte. Nein, natürlich nicht persönlich, aber Sybilla maß nun einmal jedes männliche Wesen an der unerreichbar hoch aufgelegten Messlatte, die Eckard Assauer hieß. Und so, wie er jetzt neben ihr saß, wusste Sybilla, dass niemals ein anderer diese Messlatte überspringen konnte.
Plötzlich neigte sich die Maschine nach vorn, der Horizont tanzte. Jemand hatte heimlich ein Loch in den Himmel gefräst, der Airbus raste darauf zu, der rettende Luftstrom unter den Tragflächen riss ab und die Maschine stürzte wie ein Stein in die Tiefe. Menschen wurden in ihren Sitzen herumgeschleudert und hingen einen kurzen Moment schwerelos in ihren Gurten. Ebenso unvermittelt, wie der freie Fall einsetzte, wurde er heftig wieder gestoppt. Plötzlich fanden die breiten Flügel wieder Halt, Assauer spürte die Kraft, die ihn in seinen Sitz presste und das Blut aus seinen Beinen in den Kopf trieb. Über den Passagieren sprangen Sauerstoffmasken aus ihren Verstecken und Sybilla wurde ohnmächtig.
Assauer beugte sich weit nach vorn. Er durfte nicht bewusstlos werden, er musste Kevin beschützen. Hatte er Angst? Natürlich. Er wollte leben; auch wenn er ein alter Mann war, wollte er leben!
Viele Passagiere versuchten über ihre toten Handys Angehörige und Freunde zu erreichen, verschickten Kurznachrichten, die nie ihr Ziel erreichten. In Todesangst flüchteten sie in Stoßgebete als die Unterseite des Airbusses am Lindenbuck, dem neunhundert Meter hohen Hausberg Bonndorfs, erste Baumwipfel berührte. Die Luft war gesättigt vom Duft nach geräuchertem Schinken, der aus der nahe gelegenen Fleischwarenfabrik aufstieg. Die Tragflächen zerteilten die Gerüche, während das Flugzeug kurz auf einem abschüssigen, steinigen Acker aufsetzte. Das Feld endete nach wenigen Metern abrupt an der Straße nach Brunnadern in einem leichten Anstieg vor der Abbruchkante zur Straße. Wie auf einer Sprungschanze wurde der Airbus zurück in die Luft katapultiert und jagte im Tiefflug Wellendingen zu. Nach fünfhundert Metern neigte sich der Airbus plötzlich nach rechts und in das von Verwirbelungen und der Luftverdrängung des Geisterflugzeuges herrührende Flattern und Brummen mischte sich gefährliches Knirschen, als die Spitze einer Tragfläche den Boden berührte. Die Tragfläche bohrte sich in die lockere Erde, die Maschine wurde nach rechts gerissen, die Nahtstellen zwischen Rumpf und Tragfläche kreischten und quietschten. Mit einem ohrenbetäubenden Knall barst Metall und der Flügel brach ab. Nun plötzlich linkslastig, kippte die Maschine auf diese Seite, die verbliebene Tragfläche fraß sich in den lockeren Boden und warf einen Wall aus Erde, Stein und Gras auf. Die angeschnallten Passagiere wurden auf ihren Sitzen hinund hergeschüttelt, mehrere Sessel rissen aus ihren Verankerungen und flogen als bemannte Geschosse durch die Kabine. Assauer packte seinen Enkel, zog ihn zu sich auf den Schoß und beugte sich über ihn. Der Sitz mit Sybilla war verschwunden!
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