Rattentanz. Michael Tietz
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Читать онлайн книгу Rattentanz - Michael Tietz страница 35

Название: Rattentanz

Автор: Michael Tietz

Издательство: Bookwire

Жанр: Языкознание

Серия: Edition 211

isbn: 9783937357447

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СКАЧАТЬ hatten die unproduktive Angst, die Angst, die den Ängstlichen verharren lässt und einsam macht. Thomas spürte deutlich, dass es sich um eine egoistische Angst handelte, destruktiv, zerstörerisch und böse. Würde sie den Weg zu ihm finden? Sie war schon ganz nah gewesen, diese Angst, vorhin, nach den Schreien. Da hätte sie ihn beinahe gefunden. Aber etwas musste sie weggelockt haben, hin zu einem fetteren Opfer, fort von ihm.

      Thomas hatte einen Schluck Tee getrunken.

      Komm, hihi, trink aus! Mach’s leer, es reicht ja doch nicht für die Ewigkeit! Jaaa, trink, trink schneller, schneller, umso schneller ist unser Leiden vorbei.

      Er hatte Nummer drei gefolgt und getrunken, zuerst langsam Schluck für Schluck, abgesetzt und gewartet. Aber sein Durst war nicht geringer geworden, im Gegenteil! Und so hatte er den Inhalt der kleinen Thermoskanne hemmungslos runtergestürzt. Nun, mit dem Wissen nichts mehr zu haben, war der Durst nur noch schlimmer. Wie lange dauerte es, bis man verdurstete? Drei Tage oder fünf?

      Für Thomas roch der Aufzug nach Tod und Verwesung. Am Morgen, als Lastenaufzug 2 stecken geblieben war, hing dieser Geruch noch nicht in der Luft.

      Tod. Riecht der Tod? Riecht er so? Würde er selbst – Thomas Bachmann – einmal so riechen? Oder das, was von ihm später einmal übrig bliebe?

       Wenn jemand in zehn oder hundert Jahren diesen Aufzug öffnet, ist nichts weiter von dir übrig als ein Häufchen blanker Knochen! Ach, wäre es doch schon so weit, wären wir doch endlich tot!

      Thomas hatte seine schwarze Aktentasche ganz nah an sich herangezogen. Sie besaß einen silbernen Verschluss, so einen, den man mit dem Finger hineindrücken musste, damit sie sich öffnete. Er drückte und hörte unmittelbar darauf das willige Klicken, mit dem sie aufsprang. Aber ebenso leer wie seine Thermoskanne war auch Thomas’ Tasche. Er tastete nichts in ihr, keine Wurstbrote, kein Taschentuch, keine Taschenlampe, noch nicht einmal ein Feuerzeug.

      Wozu ein Feuerzeug? Nummer zwei war da. Willst du dir beim Sterben zusehen? Vielleicht noch alles in Brand setzen?

      Was soll hier schon brennen, knurrte Nummer eins.

      Thomas freute sich, ihn zu hören. Nummer eins beruhigte das kleine Kind in Thomas ein wenig, betrog die Wirklichkeit mit dem Gefühl der Sicherheit.

      Sicherheit? In seiner Situation?

      Aber es war genau so und wäre er jetzt mit den anderen beiden Stim men allein gewesen, ohne dass ab und zu mal jemand in seinem Kopf für Ordnung sorgte, hätten ihn Angst und Wahnsinn mit Bestimmtheit längst aufgefressen. So wie es damals beinahe geschehen wäre, als er zum ersten Mal Nummer zwei hörte. Das war der peinlichste Moment seines Lebens.

      Mit elf Jahren hatte seine Umgebung, vor allem seine Eltern und mehrere Lehrer, den Eindruck, dass er mit einer gehörigen Portion Medikamente vielleicht besser funktionieren und eher dem Bild eines normalen Elfjährigen entsprechen könnte. Wenn sie unter »normal« Antriebslosigkeit, Übelkeit und diese unendliche Müdigkeit meinten, die ihn jeden Tag so gegen zehn überfiel, dann hatten sie ihre Vorstel lungen wunderbar umsetzen können. Aber das, so erklärte ein Arzt seiner Mutter, waren nur Nebenwirkungen der Medikamente, die Thomas irgendwann in einen ganz normalen Menschen verwandeln sollten. Irgendwann!

      Wohl wieder eine Nebenwirkung, setzte die Pubertät bei ihm erst mit siebzehn ein und dies auch erst, nachdem eines der Mittelchen, die er täglich viermal schlucken durfte, kurzzeitig abgesetzt war. Plötzlich veränderten sich seine Stimme und sein Körperbau, begannen Haare an den unmöglichsten Stellen zu wachsen und, wie er vollkommen irritiert entdeckte, wuchs auch etwas anderes an ihm. Wenn er ihn anfasste, zum Wasserlassen oder im Bad, fühlte es sich mit einem Mal vollkommen anders an. Es kitzelte, aber es war nicht das quälende Kitzeln der Mädchen aus seiner Nachbarschaft, die ihn, den kleinen und schmächtigen mit der hohen Stimme, packten und hinter einen Busch zerrten. Zu zweit oder dritt hielten sie ihn, während eine ihn kitzeln durfte, bis er weinte.

      Nein, dieses neu entdeckte Kitzeln war anders, angenehm. Und warm war es. Und es zog sich von dieser einen Stelle bis in die Haarspitzen und − andere Richtung − zu den Zehen. Es war schön. Es war so schön, dass er sich manchmal abends im Bett, in den wenigen Minuten, die ihm blieben, bevor die Medikamente ihn mit bleiernem Schlaf ausgossen, leise berührte.

      Und eines Abends war es so weit: Etwas Unbekanntes ergoss sich aus ihm, es schoss heraus und hinterließ einen großen, klebrigen Fleck auf dem Laken.

      Wenn das Mutter sieht!, zeterte da zum ersten Mal Nummer zwei. Lass ihn doch.

       Ja, riechst du das! Na, wie riecht das? Wie Käse oder vielleicht wie Salami? Und es hinterlässt große, hässliche Flecke, die können das ganze Bett ruinieren, ja vielleicht sogar Löcher hineinätzen?

      Hör auf!, grummelte Nummer eins, eher amüsiert denn böse.

      Aber für Thomas verband sich seither, wenn er Nummer zwei schimpfen und abwägen hörte, ihre Stimme mit dem unangenehmen Gefühl dieses Abends. Sie hatte ihn erwischt, auf frischer Tat ertappt. Und es hatte Jahre gedauert, bis er keine Angst mehr vorm Erblinden hatte. Davon kann man blind werden, blind wie ein Maulwurf! Warum waren Maulwürfe blind?

      Es war nie wieder passiert. Aus Angst vorm Erblinden und weil er seine alten Medikamente irgendwann wieder nehmen musste. Und diese Medikamente vertrieben zielgerichtet jedes angenehme Kitzeln aus seinem Körper. Vielleicht waren sie auch nur deshalb da.

      16

      15:44 Uhr, Krankenhaus Donaueschingen, Intensivstation

      Was ihm zu schaffen machte, war weniger, wie der Tote sich anfühlte als das Wissen, dass es ein Toter war. Obwohl – als er darüber nachzudenken begann …

      Unter dem Bettlaken, mit dem Eva die Leiche und Beck abgedeckt hatte, verschwammen die Geräusche der Station. Das Zischen der Beatmungsmaschinen, die Sauerstoff in kranke Lungen pressten, piepsen de Geräte und Pumpen, dazwischen das Stöhnen von Verletzten sowie Stillers Anordnungen, die er Augenblicke später revidierte, waberten durcheinander. Einzig Ritters Stimme war laut und deutlich zu vernehmen.

      »Wo ist dieser Stiller, verdammt noch mal!«

      Beck, etwa einen Kopf kleiner als der hochgewachsene, hagere Tote neben ihm, lag mit dem Kopf halb unter dessen Schulter. Seinen Rücken drückte er gegen ihn, die Beine hielt er leicht angewinkelt und unter den verstorbenen Beinen versteckt. Für einen Unwissenden war von außen nichts Auffälliges zu entdecken; da lag nur ein stattlicher Herr, soeben verschieden, und wartete auf seinen Abtransport, wohin auch immer.

      Der Beckenkamm der Leiche drückte in Becks Rücken. Genau gegen die Wirbelsäule. Und unter seinem Arm roch es nach bitterem, kaltem Schweiß, den er im Sterben noch versprüht haben musste. Der Mann, der den herrlichen Maimorgen hatte nutzen wollen und mit seiner Frau zu einer Fahrt nach Schaffhausen an den Rheinfall aufgebrochen war, wurde zufällig fast unmittelbar vor den Toren der Klinik Opfer eines Handynutzers, der, einen Moment abgelenkt, die bestehenden Vorfahrtsregeln missachtete und in den ältlichen Ford des Rentnerehepaares krachte. Die Frau war sofort tot (»Der Gurt schnürt mich immer so ein. Ich bekomme da drin keine Luft, Liebling. Ich lass ihn heute mal weg.«). Er wurde vom Unfallverursacher in die Klinik getragen und einem Arzt übergeben. Der Unfallverursacher hatte dem Unfallopfer seine eigene Jacke um den Bauch gewickelt und so die hervorquellenden Därme bis zur Notaufnahme zurückhalten können. Und sich erbrochen.

      »Stiller!«

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