Rattentanz. Michael Tietz
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Название: Rattentanz

Автор: Michael Tietz

Издательство: Bookwire

Жанр: Языкознание

Серия: Edition 211

isbn: 9783937357447

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СКАЧАТЬ Nummer eins sich zu Wort meldete. Was auch erklärte, warum Thomas sich wohl und sicher, ja fast geborgen fühlte, wenn er die Stimme von Nummer eins in seinem Kopf hörte.

      An jenem Septembertag, er saß mit einem Teller auf dem Schoß und einer Gabel in der Rechten auf seiner kleinen Kommode neben dem Herd, machte Großmutter Thomas’ Lieblingsessen: Pfannkuchen mit Sauerkirschmarmelade. Sie briet einen Teigfladen nach dem anderen in einer kleinen Pfanne und ließ sie auf seinen Teller rutschen, bestrich sie mit Marmelade und schnitt sie in kleine Stücke. Immer die laut brutzelnde Pfanne im Auge, beeilte sich Thomas, vor seiner Großmutter fertig zu sein. Beim ersten Pfannkuchen gelang ihm das locker, beim zweiten schmolz sein Vorsprung schon dahin und als der vierte fertig in Großmutters Pfanne lag, war sein Teller meist noch halb voll – Zeichen zum Aufhören.

       Na, den einen wirst du doch wohl noch schaffen!

      Das waren die ersten Worte, die Nummer eins zu ihm sagte. Thomas erschrak, sah sich überall im Raum um − aber außer ihm, seiner Großmutter und Goethe, Großmutters altem Kater, der in einer Holzkiste unter dem Herd schlief, war niemand in der Küche.

      An mich wirst du dich gewöhnen müssen, ich gehöre jetzt zu dir, hatte Nummer eins gesagt.

      »Und wer bist du?«, hatte Thomas laut gefragt.

      »Wer ist wer?« Großmutter hatte ihn damals ziemlich verwirrt angesehen.

      Seit diesem Tag verzichtete Thomas darauf, laut mit seinen Stimmen zu sprechen. Erst Jahre später, mit dem spektakulären ersten Auftritt von Nummer drei, sollte sich dies ändern.

      Hier in der engen Kabine roch es muffig und nach kaltem Metall. Die Dunkelheit hätte ihm zwar gern dabei geholfen, sich an jeden beliebigen Ort der Welt zu träumen und ihn durch keine störende Realität von seinen Fantastereien abgehalten, doch waren die Gerüche im Aufzug wie ein Gewicht, das seinen Geist in die enge Kabine zwang.

      Die schwarze Aktentasche unter den Arm geklemmt, ließ Thomas seine Finger über die kühlen Wände wandern. »Dinge, die du kennst, verlieren ihren Schrecken«, hatte Großmutter einmal zu ihm gesagt, als er sich wegen eines undefinierbaren Rumpelns nicht in die schumm rige Küche traute. Mit diesen Worten war sie vor ihm hergegangen und hatte, nach einem kurzen Blick durch den Raum, auf die Ursache des Geräusches gezeigt. Goethe hatte auf der Suche nach etwas Essbarem einen Tonkrug mit Gänseschmalz umgeworfen. »Siehst du. Die ganze Angst hat sich nicht gelohnt.«

      Die Metallplatten der Fahrstuhlkabine, tastete er, stießen bündig aneinander. Sie waren mit eingelassenen Schrauben befestigt und uneben, wie gleichmäßig mit einem runden Hammer bearbeitet. Als er anschließend den glatten Linoleumboden untersuchte, fand er seinen Ball. Glücklich steckte ihn Thomas ein.

      Nummer eins: Also wenn ich du wäre, würde ich jemanden anrufen! Thomas stutzte, dann richtete er sich auf. Nummer drei: Oder uns die Telefonschnur, hihi, um den Hals wickeln hihihi. Jaaaa! Und dann musst du auf das Geländer steigen und dich in die Tiiiefe stürzen, hihi.

      Richtig! Neben den Knöpfen für die einzelnen Etagen war in fast jedem Aufzug ein Telefon. Für Notrufe. Oder diskrete Ferngespräche mit Menschen in einem Aufzug in Hamburg oder Moskau oder …

      PARIS!, schrie Nummer zwei dazwischen.

      Thomas suchte rechts und links der Tür nach dem Telefon. Auf der rechten Seite − Natürlich rechts. Wenn man sich recht erhängen will, dann muss das Telefon rechts sein. Hihi, und alles wird recht, wenn’s recht ist, solange es nur, hihi, rechts ist − fand er den Apparat. Als seine Fingerspitzen aber den rauen Kunststoff des Hörers und die in sich gewundene lange Schnur entdeckten, fuhr er zurück als habe er sich verbrannt. Wie viele Menschen mochten wohl schon damit telefoniert haben? Hunderte? Tausende?

      Andererseits hatte Thomas noch nie jemanden in einem Aufzug telefonieren sehen.

      Er war nervös und knabberte an seinem Daumen, wo die kleinen Wunden, die entstanden, wenn er in Gedanken verloren die Haut abnagte, nie verheilten.

      Also ich würde das Dreckding da nie und nimmer anfassen! , Nummer drei war da! Stell dir vor, ein Tuberkulosekranker hat seinen feuchten Sabber da reingehustet. Oder Aidskranke! Wir sind hier in einem Krankenhaus, sicher gibt’s da auch Aidskranke, die, mit nässenden Eiterschwielen an den Händen, gern mal irgendwo ungestört mit ihrem Lover telefonieren. Nein, nein, nicht anfassen. Bloß nicht anfassen.

      Und was dann?, dachte Thomas.

       Auf mich hören und in Zukunft die Treppe nehmen!

       Welche Zukunft hihi, wenn ich fragen darf?

       In Zukunft auf mich hören! Und vielleicht doch um Hilfe rufen? In Filmen ist doch immer eine Klappe in der Decke. Klettern wir doch einfach alle raus.

      Oh ja, Nummer drei schien begeistert, wir klettern auf die Kabine und wenn wir oben sitzen, peng, kommt, hihi, der Strom wieder und der Aufzug rast in den, in den, na, in welchen Stock denn gleich? Wo sitzt unser lieber Onkel Doktor?

      »Im dritten.«

      Richtig. Und das wäre dann ja wohl gaaaaaanz oben, wo wir schön gemütlich zerquetscht werden, hihihi. Also los, worauf wartest du. Komm, kleiner Tommy, komm, lockte die schrille Stimme.

      09:18 Uhr, Krankenhaus Donaueschingen

      Techniker der Klinik versuchten die Fahrstühle, die sich zum Zeitpunkt des Stromausfalls in Bewegung befanden und zwischen zwei Etagen stehen geblieben waren, gewaltsam zu öffnen. Im Normalfall (Aber was war heute noch normal?) waren die Aufzüge in das vom Notstrom versorgte System integriert. Sie durften zwar nicht mehr benutzt werden, setzten aber wenigstens ihre begonnene Fahrt fort. Aber nicht heute − und keiner wusste, warum. Von den acht Fahr stühlen der Klinik, von denen sich sechs parallel zum Treppenhaus befanden, waren drei betroffen, steckten also zwischen zwei Etagen fest.

      Eine Köchin saß zusammen mit einer Palette tiefgefrorener Schweinekoteletts im Lastenaufzug zwischen Küche und Tiefkühllager. Wegen der Hitze, die sie den ganzen Tag in der Küche umgab, trug sie nur eine dünne Schürze über ihrer Unterwäsche. Die enge Kabine, in welche die Holzpalette gerade eben so hineinpasste, war nach einer Stunde völlig ausgekühlt. Die Köchin konnte ihren Atem sehen. Ihre nackten Füße schmerzten zuerst, als sie sich rot verfärbten. Später nahmen sie eine erschreckende Blässe an, die allerdings recht gut zum Dunkelblau ihrer Sandalen passte. Als die beiden Techniker zwanzig nach neun mit zwei Brechstangen die Tür aufhebelten, saß die Frau völlig unterkühlt in der engen Kabine. Sie wurde nach draußen gebracht und langsam wieder aufgewärmt. Wie weltweit jeder andere Teilnehmer blieb auch die Servicehotline der Aufzugsfirma unerreich bar und die beiden Techniker mussten sich nun, mit einem flauen Gefühl im Bauch, um den zweiten Fahrstuhl kümmern, aus dem ihnen jemand antwortete. Es handelte sich um einen der drei geräumigen Lastenaufzüge an der Rückseite des Treppenhauses. Eine Krankenschwester wartete darin, eingesperrt mit einem bettlägerigen Patienten. Beide waren gerade auf dem Weg zurück aus der Röntgenabteilung, als der Strom ausfiel. Der Patient, ein massiger Hypochonder, saß aufgrund seiner immensen Körperfülle Tag und Nacht aufrecht im Bett. Das Kopfteil war maximal aufgestellt, denn nur so − und mit einer gehörigen Portion Sauerstoff, den er stets in der Nähe hatte − glaubte er einigermaßen ausreichend atmen zu können.

      Für den Transport in die Röntgenabteilung und zurück befand sich eine Fünfliter-Flasche mit Sauerstoff am Kopfende des Bettes. Nach einer Stunde in der Schwebe zwischen erster und zweiter Etage der Klinik war die Flasche leer.

      Die СКАЧАТЬ