Der Fremde: Ein Gleichniss. Hans von Kahlenberg
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Название: Der Fremde: Ein Gleichniss

Автор: Hans von Kahlenberg

Издательство: Bookwire

Жанр: Языкознание

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isbn: 4064066116903

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СКАЧАТЬ Beschluss machte ein Anarchist. Er hatte wenig Glück, die Parteiveteraninnen protestirten von vornherein. Die Rede war ein krauses Sammelsurium, eine Gesellschaftsordnung auf nur natürlicher Grundlage, freie Geschlechtswahl, mit einer seltsamen Verquickung von naturphilosophischen Dingen, abstrusem Mysticismus. Man rief ihm Schweigen zu, pfiff, trampelte mit den Füssen: [pg 54]„Schliess auf! Halt’ die Schnauze!“ Man wollte das nicht, man war Polizei für sich selbst. Wenn Einer das Martyrium der Lächerlichkeit auf sich nehmen wollte, desto schlimmer für ihn selbst. Sie schüttelten sich das von den Rockschössen. Sie hielten auf ihre neue, sauererworbene Respektabilität.

      Der Verhöhnte stand einen Augenblick, blass, mit einem kränklichen Lächeln, stotternd. Dann stieg er unter allgemeinem Gelächter die Tribüne herunter.

      Die Versammlung löste sich auf in bester Ordnung. Der Abgeordnete wechselte mit den Polizisten einen Gruss. Er war sorgfältig in einen gestrickten Wollshawl eingewickelt, er litt an Katarrhen. Der Sergeant lächelte gutmütig mit Bezug auf den letzten Redner. „Verrückter Kunde! Wir lassen ihn laufen“ ... Sie hatten ihn schon so oft eingesteckt. Da war nichts zu machen. Und er war ungefährlich. – Beide Gewalthaber schieden im besten Einvernehmen. Hätten sich die Machtverhältnisse eines Tages umgedreht, diese Gegensätze würden ruhig in ihren beiderseitigen Functionen bleiben können. Es wäre dasselbe gewesen.

      [pg 55]

      Der Pastor vereinigte sich mit dem berühmten Führer. Er sprach eifrig auf ihn ein. Mit einer gewissen Nachsicht des alten Praktikers unterbrach ihn der Andre nicht. Schliesslich – diese Leute thaten seine Arbeit.

      Am Strassenausgang stand ein Fremder. Er stand da und sah sie an.

      Sie sahen ihn Beide, der grosse Mann und der Pastor. Auch die Polizisten sahen ihn.

      „Wer war der Mann?“ fragte der Pastor.

      Der Abgeordnete zuckte die Achseln. „Ich kenne ihn nicht.“ Er hatte Eile, nach Hause zu kommen. Er musste sich schonen.

      „Ein grosser Mann,“ sagte der Johannes ekstatisch. Ihn fror. Er stand da am Ausgang und hatte die Hände in die Taschen gesteckt und sah ihm nach. Seine Backenknochen glühten. Er musste husten in sein Taschentuch. Wenn er es wieder herunternahm, war es immer voll Blut. Er wusste das schon. „Was er sagt ist wahr. Er versteht’s.“

      „Ein grosser Mann,“ sagte der Fremde.

      Die ganze Masse schob an ihnen vorüber. Die Veteraninnen sprachen sehr laut. Sie hatten die Kasse abgeschlossen und entrüsteten sich über [pg 56]wieder einmal constatirte Gnietschigkeit. Eine wollte sich noch zu Hause Puffer backen. Sie gaben Parolen aus für den nächsten Tag und Rendezvous in den Vereinen. Die Studenten wollten noch zum Bier, die eingenommene Quantität hatte ihnen nicht genügt. Man war froh, sich zu bewegen, die Beine auseinander zu setzen, nachdem man drinne eingepökelt gewesen war wie Pökelhäringe. Einige Damen riefen nach einer Droschke, sie gehörten zur Frauenbewegung und besuchten dergleichen aus Princip. Man truppte zufrieden nach Haus. Man hatte seine Pflicht gethan und ihr Häuptling hatte seine Sache gut gemacht. Es gab Keinen, der über diesen Mann ging, und die immer zunehmende Stimmenzahl bei den Wahlen. Das war das grosse Kampfmittel. Es liess sich nachrechnen, wie das stieg von fünf Jahren zu den nächsten fünf Jahren.

      Dann kam auch der Anarchist. Er trug einen ganz dünnen, kleinen Sommerpaletot und ging, als ob er gar nicht wüsste, wo er wäre. Seine vagen, schweifenden Augen trafen den Fremden und den Johannes. Es lag eine nachdenkliche, zärtliche Wehmuth in dem Blick, eine Bitte, oder als ob er sich entschuldigen wollte, dass er an[pg 57]fragte – aber man wusste nicht, ob er überhaupt wirklich sah. Er war noch nicht alt, aber er sah hungrig aus, mehr vom Hunger des Geistes, als vom leiblichen Hunger. So hatte er etwas von einem Kind, oder auch von einem hülflosen getretnen Thier. Er seufzte und blickte in das Laternenlicht. „Es ist schon elf Uhr,“ sagte der Anarchist.

      Er schauerte und kroch tiefer in seinen Ueberzieherkragen. Er hatte einen sehr weichen, hellen gelben Hut auf, der in weitem Rand von seinem Kopf abstand. Seine Haare fielen gerade über seine Ohren und waren lange nicht geschnitten. Wenn er sprach, lächelte er jedesmal, ein schüchternes Lächeln, wie von Einem, der im Unrecht ist und doch etwas Gutes und Wichtiges sagen möchte. Dann hatte er ungeschickte Bewegungen, wie von einem Wurm, und hüpfte zuweilen auf einem Fuss, als ob er stolperte.

      Der Johannes ging auf der andern Seite. Er hustete. Er war ganz selig im Gedanken an diesen grossen Mann, dessen Hand er gedrückt hatte, der so gut sprach, eine Stimme war, auf die man hörte, für die armen Leute. Die gebildeten, sachlichen Sätze hatten ihm imponirt. Sicher! [pg 58]Das wandte sich zum Bessern, wenn einfache Gerber- und Brauergesellen sprachen wie der! Er trug seine rothe Cravatte wie ein Triumphzeichen. Mehr konnte er nicht thun. Aber das Blut seines Herzens war darin. Er fühlte seine Lungen brennen und flattern unter ihr.

      „Es ist immer am schlimmsten des Abends,“ entschuldigte er sich.

      „Das thut der Rauch. Sie sollten nicht rauchen im Saal. Es strengt auch die Stimme an, wenn man sprechen muss. Und er hat zwei Stunden gesprochen. Das ist bewunderungswürdig für solch’ einen Mann!“

      Er war rührend in seiner Zärtlichkeit für diese Stimme, den Mann, der sprach, während er nur husten konnte, unnütz sein Blut ausspie, in das Taschentuch, das sich färbte, klebrig wurde zwischen seinen dünnen, fiebernden Fingern. Sie waren gelb wie aus Wachs und gezeichnet von aussen durch die harte Arbeit, roher, oberflächlicher, als durch die Krankheit von innen, die sie zehrte, fein machte, spiritualisirte.

      „Wir werden es ja nie erleben,“ sagte er friedlich. „Aber die Andern, die nach uns kommen! Einen Tag haben wir genug Stimmen im Reichstag. [pg 59]Sie können nicht mehr an gegen uns. Dann wird Alles gut sein. Wir werden die Gesetze machen. Es giebt keine Kriege mehr. Alle Völker sind Brüder. Man arbeitet. Man lebt“ ... Er hustete heftiger wieder, sich abwendend, um den Andern den Anblick seiner Schwäche zu ersparen.

      „Ich – ich hasse die reichen Leute nicht. Sie wissen es nicht besser. Es sind Viele, die es gut meinen. Man wird Gesetze finden. Das geht ganz von selbst, ohne Revolution und Blutvergiessen. Die Soldaten sind ja auch auf unsrer Seite. Nur Zeit braucht’s. Man hört. Man liest Bücher. Die Vernunft muss ja ihren Weg finden. Es ist nur schlecht eingerichtet. Man hat die Religion gehabt, den Aberglauben. Die Menschen sehen jetzt, wie es wirklich ist. Man kommt vorwärts. Man bildet sich. Alles geht gut. Die Gerechtigkeit muss aufkommen.“

      Alle diese kleinen Sätze sagte er ruhig, sanft, ohne Aufregung, von Hustenanfällen unterbrochen, die ihn quälten, seinen Körper schmerzhaft zusammenkrümmten, wie aufgespiesst an einer glühenden Nadel.

      Sie gingen in dem Strassengetriebe vorwärts. Es trieb sie ohne ihren Willen. Vielleicht wussten [pg 60]sie gar nicht, wohin sie gingen. Eine alte Frau in einer schwarzen Pelerine wackelte vor ihnen her, enorm wie eine wandelnde Glocke. Einige hatten Regenschirme aufgespannt. Sie sprachen von Geld: „Wenn man dreissig Pfennige die Stunde verdient, aber fünfundvierzig müsste man haben.“ Ein junges Mädchen trug einen grossen Carton. Sie trippelte und sah hinter sich nach drei jungen Burschen, die sich lärmend stiessen.

      Die Laternen schwammen wie gelbe, ausgeflossene Dotterflecken, schaukelnd. Der Schmutz mit dem geschmolzenen Schnee bildete eine bräunliche, zähe Masse. Eine leere Droschke fuhr sehr dicht am Trottoir, als ob der Kutscher Kunden suchte. In den Destillationen discutirte man oder spielte Billard. Man sah die grauen Hauswände feuchtigkeitstriefend mit Ladenschildern und Plakaten, Pferdebahnen, die klingelnd trotteten mit müden, geduldigen Pferden. Aber Alles ungewiss, wie verwischt, unruhig, in Schatten ...

      „Man müsste es machen wie die Thiere,“ sagte der Anarchist. „Thiere sind klüger wie Menschen. Sie СКАЧАТЬ