Название: Aufgreifen, begreifen, angreifen
Автор: Rudolf Walther
Издательство: Bookwire
Жанр: Языкознание
isbn: 9783941895508
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Inzwischen hat sich die Diskussion über Identität längst als alles andere als zwecklos herausgestellt. Aus der Frage nach der Identität ist jene nach der Nation geworden. Die Verpuppung des Marginalen zum Wesentlichen geschah im Zuge der »geistigmoralischen Wende«. Danach ging es zügig abwärts, und schon 1985 konnte der »modische Begriff auf eine beispiellose Karriere zurückblicken« (Lothar Baier). 1986 warnte der Historiker Karl Dietrich Bracher vor dem »Modewort Identität« und dem »künstlichen Ton« in vielen »Identitätsbeschwörungen« (FAZ 9.8.1986). Sein Zunftkollege zur Rechten, Michael Stürmer, hatte drei Jahre zuvor mächtig in die Saiten gegriffen: »Geschichte verspricht Wegweiser zur Identität, Ankerplätze in den Katarakten des Fortschritts« (Neue Zürcher Zeitung 31.5.1983). Der »Ankerplatz« Geschichte erscheint hier, einem von Reinhart Koselleck entdeckten Sprichwort zufolge, als »der unversiegbare Dorfbrunnen, aus dem jeder das Wasser des Beispiels schöpft, um seinen Unflat abzuwaschen«. Eine prächtige Kostprobe dafür bot Claus Leggewie am 23.8.1994 im Hessischen Rundfunk. Ein runder Geburtstag musste dafür herhalten, das subalterne Geschwätz der Pariser Fernseh-Philosophen über Herder als den vermeintlichen Urheber nationalistischer Ansprüche und Irrwege mit den dem mittelhessischen Normalisierungsspeak über »kollektive Identität« zu synchronisieren: nichts außer anachronistischer Projektionen auf das 18. Jahrhundert, vermengt mit dem medialen Schaum (»wir«, »Europa«, »Kroatien«, »Sarajewo« und »multikulturell« sowieso).
»Nationale Identität« bahnte sich ihren Weg von den Kathedern durch die Feuilletons bis zur rechten Wand; eine rechtsradikale Postille verschrieb sich, die französische Nouvelle Droite kopierend, mit ihrem Untertitel »nationaler Identität«. Heute gehört es zur national bis post-links eingefärbten Geschäftsgrundlage, »kollektive«, speziell »nationale Identität« als normal, selbstverständlich und notwendig hinzustellen. »Das für viele europäische Nachbarstaaten prägende historisch-affektive Bezugsfeld der Nation steht nun als ein mögliches Angebot auch in Deutschland wieder zur Verfügung. Langfristig kann dies zur Befriedigung kollektiver Identitätsbedürfnisse beitragen« (W. Weidenfeldt/K.-R. Korte 1991). Die Autoren haben eine »plural angelegte, offene nationale Identität« im Auge, was man nicht einmal einen Euphemismus nennen kann, denn noch jedes bekannte Streben nach »nationaler Identität« war immer und zuerst ein Kampfprogramm gegen innere und äußere Feinde. Für Pluralität und Offenheit war darin so viel Platz wie für Argumente in der Kriegspropaganda. Sich der »nationalen Identität« zu versichern, lief immer auf die rechtliche Zurücksetzung, die soziale Isolation, die Vertreibung oder die Ausrottung der Anderen und Fremden hinaus. Die Ausnahmen bestätigen nicht einmal die Regel, weil sie so selten sind.
Martin Walser mag das Wort »nationale Identität« nicht, setzt aber einen drauf, wenn er Nation mit Geschichte gleichsetzt: »Ich könnte statt Nation auch einfach Geschichte sagen. Nation ist Ausdruck des durch Geschichte Form und Wirklichkeit Gewordenen. Gesellschaft genügt nicht. Gesellschaft ist etwas international Vergleichsnotwendiges; aber in der Gesellschaft ist zu wenig das Geschichtliche enthalten« (taz 11.9.1993). Walser mag auch »Meinungen« nicht; sein Verständnis von Nation und Geschichte zeugt eher von schlichter »Einfalt«.
Die Sehnsucht nach »kollektiver Identität« entsprang seit Napoleons Kriegen, mit denen die Revolution zum Exportartikel gemacht wurde, den Schlachtfeldern und Schützengräben. Die Blutspur des Nationalismus ist die Matrize für den Hang zu kollektiver Gefühligkeit: »Der Krieg ist unser Vater, er hat uns gezeugt im glühenden Schoße der Kampfgräben als ein neues Geschlecht« (Ernst Jünger). Ein Freicorps-Mann beschrieb den Kern des Kults um Männer, »die ihre Sache auf nichts gestellt haben« als »kollektive Identität« (Erich Müller): »Denn das, was in uns, in uns allen aufblühte damals, da wir, die Knarre in der Hand, durch Deutschland irrten, das war nicht so ohne weiteres unser eigen Wesen, das war durch mystische Mächte in uns hineingepflanzt, wir wirkten nicht, es wirkte in uns« (Ernst von Salomon). »Kollektive Identitäten« haben mit Aufklärung und Selbstbewusstsein nichts, mit Feindabgrenzung und Gemeinschaftsträumen viel zu tun. In der Jägersprache, die die wilhelminische Gesellschaft und Carl Schmitts Begriff des Politischen als Unterscheidung von Freund und Feind prägte, läuft Identitätsstiftung auf die Landser-Weisheit hinaus: »den Feind schussrecht kommen lassen« (Otto von Bismarck). Carl Schmitt hat den Feind in seiner Demokratiekritik dingfest gemacht. 1933 nannte er ihn beim Namen: »Der Andersdenkende, Andersempfindende und Andersgeartete, das Andersdenken als solches«, das als »Dialektik der Andersheit ... das völkische Empfinden« untergräbt. Schmitt hat die Begriffe »Homogenität« und »Identität« in die Staatsrechtslehre eingeführt und je nach den Zeitläufen völkisch akzentuiert. Das Programm blieb: Staatliche Gewalt sollte unberechenbare Demokratie zur »Volksgemeinschaft« säubern. In der FAZ (9.3.1994) wachsen heute daraus Identitäts- bzw. »Einheitssorgen« und deshalb »nicht mehr Angst vor dem Staat, sondern um ihn«. Wacker.
Was könnte »kollektive« bzw. »nationale Identität« bedeuten? Wo von ihr die Rede ist, bleibt alles finster. Wer stiftet sie wem, wie und wozu? Niemand vermochte bislang darzutun, wie das funktioniert, aber viele reden davon. Frei nach Nestroy: Was keiner versteht, ist »kollektive Identität«. Wenn man weiß, wie Nationen erfunden und konstruiert werden mussten, fällt es nicht schwer, sich den Prozess vorzustellen, wie »kollektive Identitäten« von den Schreibtischen der Ideologen und Professoren in die Köpfe der Bürger gelangen. Viele gestehen das indirekt ein, indem sie nicht von »nationaler Identität«, sondern bescheiden von Vorstellungen in der Preislage »nationaler Gefühle« reden. Unter den Gesichtspunkten von Redlichkeit und Rationalität müsste das ausreichen, um das Thema »nationale Identität« für erledigt zu halten, bis Substantielles vorliegt. Da damit nicht zu rechnen ist und die Identitätswelle weiterrollt, soll geprüft werden, ob und wie man sich unter »kollektiver Identität« etwas Bestimmtes vorstellen kann.
Wird einer, der Goethe liest zum Secondhand-Goethe, zum Frankfurter oder zum Sachsen-Weimarianer? Natürlich nicht. Er wird literarisch beschlagen oder – vielleicht – erfreut und ästhetisch gebildet. Wenn er will, kann er an dieser Bildung bzw. in der Auseinandersetzung damit seine Ich-Identität zu errichten versuchen. Gelingen wird dies aber nur, wenn er seinen Bildungsprozess im Diskurs mit anderen anerkannt sieht. Sonst beruht seine Identität auf Einbildung, die freilich robuste Naturen ebenso stabilisiert wie ein schneller Schlitten. Selbst wenn die Bevölkerung einer Stadt nur Goethe läse, würde sie dadurch weder zu einem Verein von Goethes noch zu Kollektiv-Frankfurtern oder Kollektiv-Sachsen-Weimarianern, sondern bliebe eine Gruppe von Menschen, die ihre Ich-Identitäten in unterschiedlicher Weise erarbeitet haben, Teile davon mit der Lektüre von klassischer Literatur. Die Annahme, dass Goethe allen post mortem eine gemeinsame Identität vermittelt haben könnte, ist logisch inkonsistent und in ihren praktischen Auswirkungen absurd. Wie viel Goethe auch immer sie lesen mögen, die Unterschiede blieben in den Tausenden von Ich-Identitäten größer als die – über Goethe vermittelten – in etwa gleichen Meinungen und Überzeugungen. Denn w i r haben keine Identität, die vielen Ich haben (vielleicht) eine gebildet im großen Für-, Mit-, Auf- und Gegeneinander, die man Familie, Freunde, Verein, Sport, Bildung, Betrieb nennt. Ich-Identität entsteht primär in der Auseinandersetzung mit benennbaren Subjekten bzw. existierenden Institutionen und/ oder deren Vertretern. Ich-Identität beruht nicht auf Zuschreibung, sondern auf eigener Leistung. Dieser Prozess der Individuierung vollzieht sich nicht in »Einsamkeit und Freiheit, ... sondern als sprachlich vermittelter Prozess der Vergesellschaftung und der gleichzeitigen Konstituierung einer ihrer selbst bewussten Lebensgeschichte« (Jürgen Habermas). Sekundäre Wege der »Identitätsstiftung« durch Zuschreibungen von oben und von außen bleiben, was sie sind – Palliativa (darunter etliche kriminelle): »wir«-Gefühle direkt aus dem Supermarkt, aus dem Secondhand-Shop oder bandenmäßig präparierte Stimmungsmacher.
Herkunft und Vertriebswege »nationaler Identität« СКАЧАТЬ