Aufgreifen, begreifen, angreifen. Rudolf Walther
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Название: Aufgreifen, begreifen, angreifen

Автор: Rudolf Walther

Издательство: Bookwire

Жанр: Языкознание

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isbn: 9783941895508

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СКАЧАТЬ sprachlich homogene Nation, sondern eine Vielfalt von »bunten« gentilen Verbänden. Diese Verbände Stämme zu nennen, verbietet die Tatsache, dass mit dem Begriff Stamm immer noch die legendäre gemeinsame Abstammung, Sprache und Kultur verbunden wird. Genau das war jedoch nicht der Fall. Die gentile Entwicklungsphase ist überall gekennzeichnet durch eine Vielfalt von Siedlungsformen, inneren sozialen Beziehungen, Herrschaftsverhältnissen und ethnischen Mischungsverhältnissen. Erst relativ spät bilden sich gentile Verbände zu Völkern und Großvölkern, wobei deren einzelne Bestandteile in Sprache, Kultur und Sitten sehr lange resistent bleiben gegenüber den vereinheitlichenden (»Nationalisierungs«-)Tendenzen.

      So ist es z. B. nichts als ein Gerücht, die Franken seien das Urvolk und die Begründer Frankreichs. Der Anteil eingewanderter (!) Franken am bunten Völkergemisch aus Römern, Galliern, Kelten, Bretonen, Normannen, Burgundern etc., aus dem zwischen Mittelalter und Neuzeit, von dem kleinen Gebiet der Île de France ausgehend, Frankreich heranwächst, ist minimal. Einzig im Seinebecken dürfte der Anteil der Franken im 6./7. Jahrhundert um zehn Prozent betragen haben, sonst bedeutend weniger (Karl Ferdinand Werner 1984). Nicht die Franken ethnischer Herkunft bilden Frankreich, sondern Herrschergeschlechtern und sozialen Eliten mit zum Teil fränkischen Vorfahren ist es im Laufe der Jahrhunderte gelungen, die anderen in »Frankreich« siedelnden, einwandernden und sich vermischenden gentilen Verbände, Völkerschaften und »Stämme« sowie deren herrschende Schichten zu einem Gemeinwesen zu formen. »Unterwerfung gegen Schutz vor inneren und äußeren Feinden« lautete die Formel, nach der im Laufe der Jahrhunderte so etwas wie ein Staat im modernen Sinne und nationaler Zusammenhalt geschaffen wurden; dieser »nationale« Zusammenhalt umfasste jedoch in Frankreich bis zur Revolution explizit nur die oberen Stände. Von der nachrevolutionären Nation unterscheidet sich dieser Begriff grundsätzlich, obwohl ihm dasselbe Wort zugrunde liegt. Das einfache Volk dagegen blieb, was es war: normannische, acquitanische, gaskognische, elsässische Magd, Bäuerin oder Handwerkersfrau; provenzalischer, bretonischer, burgundischer etc. Bauer, Knecht oder Handwerker; und genauso redeten sie vielerlei Sprachen, nur nicht Französisch. »Frankreich« erschien dem menu peuple noch bis ins 18. Jahrhundert hinein als ein ebenso unverständliches und künstliches Produkt wie die dazugehörige Hochsprache Französisch: eine Sache der weltlichen und kirchlichen Herren, mit der das gemeine Volk nichts zu schaffen hatte. Bei den anderen europäischen Großvölkern und Nationen verhielt es sich nicht anders.

      Ludwig XIV.: »Die Nation ist kein Staatsstand (corps d’état) in Frankreich«, und »die Nation ist vollständig in der Person des Königs verkörpert«. Keine hundert Jahre später wird Emmanuel Joseph Sieyes seinen fulminanten Traktat mit dem Satz beginnen: »Der dritte Stand ist eine vollständige Nation« (Abbé Sieyes 1789). Das war keine empirische Beschreibung, sondern ein bürgerlich-revolutionäres Programm – in seiner ganzen Widersprüchlichkeit zwischen Emanzipation und erneuter Ausgrenzung derer, die man zur Nation nicht, nicht mehr oder noch nicht zählen mochte. Die Französische Revolution schuf den modernen, der Tendenz nach demokratischen Nationsbegriff. Die Beziehung zwischen moderner Nation und moderner Demokratie ist zwar genetisch unbestreitbar, aber praktisch lose und extrem provisorisch, theoretisch irrelevant und juristisch kriminell.

      Anachronistische Rückprojektionen: »Deutschland«

      Es ist ein fast unauflösbares Volksvorurteil und ein Anachronismus, im Blick auf Frankreich von einer »alten« Nation zu reden, obwohl sich diese über fünf Jahrhunderte langsam und mit Rückschlägen entwickelte und erst in und nach der Revolution von 1789, vor allem in den Kriegen gegen das aristokratisch-monarchische Europa regelrecht geschaffen wurde. Carnot, der Kriegsminister, gilt nicht nur als »organisateur de la victoire«, sondern auch als einer der Schmiede der modernen Nation, als deren Kinderstube Schule und Kaserne fungieren (»die Schule wird zum Vorraum der Kaserne«, Hippolyte Taine 1893). Das ist nicht falsch, greift aber zu kurz, denn es dauerte noch eine ganze Weile, bis der französische Zentralstaat mit seinen Präfekten, Offizieren und Schulmeistern als nationalen Rasenmähern die überkommenen sozialen, kulturellen und sprachlichen Gewächse einheitlich zurechtgestutzt und zur Grande Nation (uni-)formiert hatte. Dazu mussten die Volkssprachen und Dialekte systematisch herabgesetzt werden, bis in der Öffentlichkeit nur noch das akademisch normierte Hauptstadtidiom Französisch aufzutreten wagte; dazu mussten vor allem die allgemeine Schulpflicht und mit ihr eine verbindliche Nationalsprache »eingeführt« werden; »eingeführt« verharmlost die Brutalität, mit der der Pariser Zentralismus regionale Sprachen und Dialekte buchstäblich ausrottete.

      Es ist schon ein schwieriges Geschäft, nachzuzeichnen, wie die französische Nation in Schule und Kaserne herangezüchtet, von national eingestellten Intellektuellen herbeigeschrieben und wie die französische Hochsprache staatlich verordnet wurde; für das Deutsche ist das noch etwas dornenreicher, weil man es nicht nur mit nationalistisch eingefärbten Anachronismen zu tun hat, sondern seit Beginn der deutschen Geschichtswissenschaft mit einer militanten Ideologieproduktion, die sich – pragmatisch entschärft – in Teilen der deutschen Mediävistik und Rechtsgeschichte bis heute durchhält.

      Der Beginn der deutschen Historiographie fällt zeitlich zusammen mit der Wahrnehmung nationaler, nationalstaatlicher Defizite in den Staaten des Deutschen Bundes gegenüber dem nachrevolutionären Frankreich. Das sollte kompensiert werden mit einer programmatisch deutschnationalen Lesart der mittelalterlichen Quellen: Die Probleme der Gegenwart bestimmten die Wahrnehmung und Aufbereitung der Vergangenheit.

      Der »deutschen Nation«, einer geschichtsphilosophischen und politischen Konstruktion par excellence, verliehen national gesinnte Historiker den Charakter eines Naturtatbestandes, indem sie »Germanen« und »Deutsche« nicht nur gleich-, sondern als »von Anfang an« vorhandenes, homogenes Großvolk voraussetzten, das im mittelalterlichen Kaiserreich eine »deutsche Einheit« angeblich verwirklicht hatte und dann fahrlässig (»Italienpolitik«) verspielte. Die richtige Voraussetzung, dass gentile Verbände, Völkerteile, Völkerschaften, »Stämme« und Völker älter sind als »Staaten«, »Reiche« und »Nationen«, verlängerte die deutsche Historiographie und Rechtsgeschichte zur Vorstellung eines immer schon existierenden »deutschen Volkes«, das eben nur Pech gehabt habe mit seinen von Italien berauschten Herrschern und herrschsüchtigen Päpsten und deshalb in punkto Staatlichkeit und Nationalität gegenüber »Frankreich« (das es damals so wenig gab wie ein »deutsches« Kaiserreich) ins Hintertreffen geraten sei.

      Germania und Gallia waren von der römischen Antike bis ins Mittelalter und die Neuzeit hinein geographische Begriffe. Der Rhein bildete die Ost-West-Grenze. Das Wort Germania in mittelalterlichen Quellen zielt immer auf diese geographischen Grenzen und nicht auf die ethnische Abstammung der Bevölkerungen oder politische Substrate. Die nach Gallien gewanderten Franken waren ebenso Germanen wie die diesseits des Rheins verbliebenen. Als »Deutsche« bezeichneten sich freilich weder die einen noch die andern.

      Anders verhält es sich mit der Sprachenbezeichnung; »deutsch« bzw. »theodiscus«, gebildet aus althochdeutsch diot (Volk), meint alle nicht-romanischen Volkssprachen. Die nationes theodiscae umfassen z. B. nicht-romanisch sprechende Franken in den heutigen Ländern Flandern, Deutschland und Frankreich, Sachsen in England, Goten und Langobarden in Italien; hier heißen Franken, die nicht-romanisch reden, deshalb teutonici oder tedeschi, und umgekehrt nennen diese die romanische Sprachen verwendende Umgebung »Welsche«. Nicht-romanisch sprechende Sachsen in England oder Franken in Flandern bzw. Italien tauchen in den Quellen als nationes theodiscae auf, können jedoch nicht »deutsche Stämme« oder gar »Deutsche« gewesen sein, da sie niemals dem politischen Gemeinwesen angehörten, das – 962 als ostfränkisches Reich gegründet – erst im 11. Jahrhundert gelegentlich als regnum Teutonicum (1073) auftaucht. Die anderen Franken, Sachsen usw. gehören selbstverständlich zu den konstituierenden Bestandteilen der anderen im Entstehen begriffenen Großvölker in »England« bzw. »Frankreich« (K. F. Werner 1992).

      Mit regnum meinen die mittelalterlichen Quellen einen sekundären Herrschaftsverband; man erklärt sich dessen Entstehung aus sesshaften gentilen Verbänden, die sich eben durch diese Sesshaftigkeit kulturelle, rechtliche und politische Strukturen schaffen und dabei die zu verschiedenen СКАЧАТЬ