Aufgreifen, begreifen, angreifen. Rudolf Walther
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Название: Aufgreifen, begreifen, angreifen

Автор: Rudolf Walther

Издательство: Bookwire

Жанр: Языкознание

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isbn: 9783941895508

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СКАЧАТЬ Francia, Saxonia, Lotharingia, Baioaria, Alemannia, Italia, Provincia sind keine homogenen Gebilde wie die anachronistischen Begriffe »Stamm« oder »Stammesherzogtum« suggerieren, sondern über lange Zeit entstandene melting pots. Die deutsche Übersetzung für regnum ist in der Regel rich oder lant regnum Baioariae, Baiernlant. Für eine Mehrzahl von regna auf dem Territorium des ostfränkischen Reiches existiert vor dem 16. Jahrhundert für »Deutschland« ganz selbstverständlich und logisch nur der Plural »deutsche Lande«. Der Alemanne, Sachse oder Baier existierte nicht von Anfang an, sondern entstand in einem geschichtlichen Prozess im Zuge der Vermischung und Verbindung von gentilen Verbänden zu Teilreichen/regna; gleichzeitig als Baier und Deutscher oder Sachse und Deutscher konnte man erst ab dem 11. Jahrhundert bezeichnet werden – gut 500 Jahre nachdem Alemannen, Baiern, Sachsen, Franken usw. belegt sind. Wie unwichtig das »Deutschsein« neben der faktischen Zugehörigkeit zu einem regionalen Teilreich und seiner Herrschaft (regnum, patria) blieb, beweist die Tatsache, dass der politische Begriff »deutsches Volk« erst nach der Französischen Revolution und in Anlehnung an die revolutionäre Terminologie vom souveränen »peuple français« nachzuweisen ist (K. F. Werner 1992).

      Das »Deutsche Kaiserreich«, angeblich 962 von Otto dem Großen gegründet, gehört zu den Fiktionen der nationalstaatlich imprägnierten Historiographie des 19. Jahrhunderts, die bis heute in schlechten Schulbüchern und im common sense fortleben. Ottos Imperium Romanum (erst seit 1157 mit dem Zusatz Sacrum und erst seit 1442 mit der Präzisierung »nationis germanicae«, also: »Heiliges Römisches Reich germanischer (!) Nation« und erst seit dem Kölner Reichsabschied von 26.8.1512 und bis zum Untergang des Reiches (12.7.1806) hieß es offiziell und adjektivisch »Heiliges römisches Reich deutscher (!) Nation«, war nicht eines der »Deutschen«, womöglich gar der »deutschen Nation« im modernen Sinne, sondern jenes der Franci et Saxones (Franken und Sachsen). Diese beanspruchten die Erbschaft des »Sacrum Imperium Romanum« für sich. Franci et Saxones musste man allerdings geographisch näher bezeichnen, um sie z. B. von den französischen bzw. englischen Sachsen und Franken abzugrenzen – deshalb der spätere Hinweis auf die rechtsrheinisch gelegene Germania im Zusatz »nationis germanicae«, nicht etwa »teutonicae« oder »theodiscae«. Näherhin meinte Otto der Große mit den Franci et Saxones, in deren Namen er auftrat, nicht Völker im modernen Sinne, sondern den in Kirche und »Staat« Macht und Herrschaft ausübenden Adel (zusammengefasst in der Formel: regnum Francorum et Saxonum). Diese weltliche und kirchliche Elite fungiert in den mittelalterlichen Quellen unter dem Begriff populus/ Volk, das allein die Kirchenoberen und die Könige wählte bzw. absetzte. Mit Volk war also – im Unterschied zum heutigen Sprachgebrauch – ausschließlich das Kirche und Staat lenkende Volk gemeint, eine Oberschicht aus Kriegern, Adligen, Klerikern (K. F. Werner 1992).

      Zu welchen Konfusionen es in Sachen »deutsch« und »Nation« trotz dieser relativ einfachen und eindeutigen Zusammenhänge nach wie vor kommt, soll an einem Beispiel gezeigt werden. Der ebenso verdienstvolle wie konservative Sozialhistoriker Werner Conze schrieb drei Jahre vor seinem Tod einen Aufsatz unter dem Titel: »Deutschland« und »deutsche Nation« als historische Begriffe (Werner Conze 1983).

      Hochideologisierter Ramsch wie der Begriff »Stammesnationen« erscheint darin, aber kein einziger eindeutiger Beleg für das Titelwort »deutsche Nation«. Das ist handwerklich gesehen ein Defizit und faktisch das Eingeständnis, dass es frühe Belege für diesen Begriff in politischen Kontexten nicht gibt, weil man sich noch für sehr lange Zeit zwar als »Deutscher« (d. h. deutschsprachiger Bayer, Sachse etc.) bezeichnen konnte, der Ausdruck »deutsche Nation« aber immer die Verbindung zum »Heiligen Römischen Reich deutscher Nation« herstellte, also gerade – modern gesprochen – ein supranationales Gebilde meinte, dem selbstverständlich Ungarn, Kroaten, Norweger, Böhmen, Luxemburger, Spanier etc. mit angehörten. Das handwerkliche Defizit gerät Conze jedoch unter der Hand zum peinlichen Lapsus, wenn er als »Beleg« den Abschied des Augsburger Reichstags vom 25.9.1555 heranzieht. Conze suggeriert, hier stünde bereits »die Teutsch Nation, unser geliebt Vaterland« in einem modernen Sinne, d. h. als ein explizit und exklusiv auf ein nationaldeutsches Substrat abzielendes Subjekt zur Debatte. Das ist natürlich nicht der Fall, und Conze konnte das auch wissen, denn er zitiert nur die obenstehenden Worte, aber nicht den klaren Kontext, aus dem hervorgeht, dass auch 1555 »deutsche Nation« nur auf die Titulatur des Reichsverbands abhebt, nicht auf eine nationale Abgrenzung, einen nationalen Staat im heutigen Sinne: »Darauf Wir uns Gott dem Allmächtigen zu Lob und zu Ehren und Jhr Liebd. und Kayserlicher Majestät zu freundlichem und brüderlichem Gefallen, auch des gnädigen, milden Willens und Vorhabens des Heil. Reiches Teutscher Nation, Unsers geliebten Vatterlands, Unser und des heiligen Reichs gemeiner Stände und Untertanen Nutz, Wolfahrt, Gedeyen und Aufnehmen zu befördern ...«; an anderer Stelle heißt es »im Reich Teutscher Nation«. Und wo ausnahmsweise von der »Teutsch Nation, unser(m) geliebt Vatterland« die Rede ist, liegt die gegen Conze sprechende Pointe genau darin, dass es im zu stiftenden Religionsfrieden darum geht, »Zertrennung und Untergang« einzelner Reichsteile zu verhüten«, also gerade nicht Teile des Reichsverbandes zu modernen, andere Gebiete ausschließenden »Nationen« zu machen.

      Überhaupt musste Conze, dem Wissenschaftler, bewusst sein, was Conze, der Nationale, vergaß: Gens und natio können in mittelalterlichen Texten in einem einzigen Satz Familien, Adelsgeschlechter, regionale Gruppen und supragentile Verbände bezeichnen, aber nicht »Nationen« im modernen Sinne, woraus nüchterne Mediaevisten schon seit geraumer Zeit den notwendigen Schluss ziehen, »dass von diesen gentes kein gerader Weg zu den europäischen Nationen führt« (Horst Beumann 1986).

      Das angeblich nationalstaatliche Jahrhundert

      Nationen im modernen Sinne, Nationalismen und Nationalstaaten sind also eine europäische Erfindung – und eine späte obendrein. Sie entstehen, grob gesagt, erst mit der Zerstörung der agrarischlokal bestimmten Gesellschaften im Zuge der ökonomischen Modernisierung und Industrialisierung. »Der Tatbestand, eine Nation(alität) zu besitzen, ist kein inhärentes Attribut der Menschlichkeit, aber er hat diesen Anschein erworben« (Ernest Gellner). Es handelt sich, bei der meistens staatlich mitgestalteten und mitgetragenen nationalen Territorialisierung im Augenblick des realen Substanzverlusts der Differenz zwischen Menschen unterschiedlicher Herkunft um eine Form von »invented traditions« (Eric J. Hobsbawm): Hymnen, Feste, Folklore, Fahnen, Kasernendrill, Erziehungsrituale – Instrumente im nationalen Baukasten. Im großen Schatten des Nationalen lassen sich sehr vielseitige Geschäfte abwickeln. Der Verdacht, dass hier in der Regel ziemlich Trübes geschieht, wenn man richtig hinsieht, ist für eine aufklärerische und kritische Position unverzichtbar.

      Im Falle Deutschlands sind die teutonisierenden Konstruktionen geradezu grotesk: Als staatsrechtlich relevanter Begriff taucht »Deutschland« überhaupt erst im 19. Jahrhundert auf – in der Deutschen Bundesakte vom 8.7.1815. Vorher ist die vermeintliche Nation zwischen dem 16. und 19. hauptsächlich adjektivisch und in den Köpfen einiger Intellektueller vorhanden. Zu den objektiven Determinanten des wirtschaftlichen, gesellschaftlichen, kulturellen und – nur ansatzweise – staatlichen Zusammenlebens der Menschen zwischen Mittelalter und 18. Jahrhundert konnte die Nationalität schon allein deshalb keine wichtige Rolle spielen, weil diese Gesellschaften und Staaten, die ihre Truppen oft und gerne aus »Ausländern« rekrutierten, um den eigenen Bevölkerungsbestand zu schonen, in einem strikten Sinne a-national waren. Die Oberschichten, allen voran Adel und Klerus, orientierten sich an gesamteuropäisch generierten Handlungskodizes, Kulturmustern und Moden; oft sprachen sie die Sprache »ihres« Volkes nicht oder nur unzureichend. Für das Volk, für die Unterschichten also, hörte die Welt buchstäblich am Dorfrand auf. Sie waren nach Sprache, Sitten, Kultur, sozialen Beziehungen und wirtschaftlichen Verflechtungen während Jahrhunderten lokal, allenfalls regional geprägt. Und die Angehörigen der sehr dünnen Mittelschicht, die allein Nationalität als Abgrenzungs- und Anerkennungsmerkmal hätte ausbilden können, verkehrten untereinander als Gelehrte lateinisch und als Händler kommerziell – auf jeden Fall eher nach kosmopolitisch-universalistischen Standards als nach nationalen (K. F. Werner 1992).

      Auch die Sprache bildet – entgegen dem naiven, national getrimmten Denken des 19. Jahrhunderts – dort kein objektives Abgrenzungskriterium mehr, СКАЧАТЬ