Название: H. C. Artmann - Bohemien und Bürgerschreck
Автор: Michael Horowitz
Издательство: Bookwire
Жанр: Изобразительное искусство, фотография
isbn: 9783800082070
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Im „Siedlungsamt“, mit dessen fachlicher Leitung 1920 Adolf Loos beauftragt wurde, versuchte man die ungesetzlichen Bauten des „Roten Wien“ in geregelte Bahnen zu lenken. Loos entwickelte in Hietzing die Kriegsopfersiedlung „Friedensstadt“ zwischen Hermesstraße und Hörndlwald, und auch in Breitensee entstanden unter der Aufsicht des Architekten Kleingärten-Kolonien.
Die „Schrebergärten“ wurden in doppeltem Sinn wichtig: „Einschränkungen der Lebensmittelnot und Entspannung der überreizten Nerven …“ Die Notunterkünfte nach dem Krieg für Menschen, denen dadurch das Überleben garantiert wurde, entwickelten sich später zu grünen Paradiesen der Peripherie.
Wie das des pensionierten Straßenbahners aus der Leopoldstadt, der, unweit des Geburtsortes von H. C. Artmann in der Kienmayergasse, einen kleinen Schrebergarten hatte und eines Tages – zwischen dem „Flüstern sommerlicher Lieder von Amseln und Drosseln im Apfelbaum“ und dem ersten Schluck des selbst angesetzten Weichselschnapses das Opfer von Einbrechern wurde. Der ehrenwerte Oberrevisor a. D. Leopold Flötzlberger, der „niemals einen Feind außer dem Durst hatte, keinem Spionagering angehörte, nicht gedichtet, nicht gemalt hat und auch nicht tätowiert war“, wurde überfallen.
Vermutlich kannte Herr Leopold, der pensionierte Straßenbahner mit der stets trockenen Kehle, all die Wirtshäuser von Breitensee und Umgebung. Das „Ameisbach-Stüberl“, Stammlokal des Hutfabrikanen Johann Feil, der als Bürgermeister von Breitensee seinen Sprechtag gerne hierher verlegte. Denn hier gab es den „besten Grammelstrudl vom ganzen 14. Hieb. Die Zutaten: „30 Grammeln, 40 dkg Mehl, 10 dkg Zucker, etwas Milch oder Schlagobers, 2 Dotter, Vanille, Backpulver, Rum, Zitrone + Schale.“
Oder das „Baumgartner Casino“ und das „Hütteldorfer Brauhaus“, „die „Bauernalm“ und der „Ochsenkopf“. Eines der legendärsten Gasthäuser musste dem Bau der Breitenseer Kirche weichen: „Die Riesin“. Laut „Extrablatt“ vom 7. 10. 1895 wurde es nach einer Wirtin aus der Biedermeier-Zeit „von ganz außerordentlicher Größe und von einem seltenen Umfang“ benannt. Hier wurden als Beilage zum G’selchten und Bruckfleisch Knödel in der Größe eines Kindskopfs serviert.
„Die Riesin“-Wirtin mit ihren Knödeln kannte man in ganz Wien, aus allen Bezirken strömten Hungrige nach Breitensee. Und in den Gstanzln der Volkssänger lebten die Riesin und ihre Knödel weiter:
Ein Hoch der Riesenwirtin,
die immer freundlich lacht
und die besten, schönsten,
größten Knödl macht!
Einer der durstigsten Sänger des Bezirks war sicherlich „der alte Bräuchl“, als Gang- und Hofsänger höchst erfolgreich: „Seine Kinder konnten Handelsschulen besuchen, seine Frau, der er treu und herzhaft zugetan war, geht seit eh und je adrett und nett in den Konsum einkaufen, per Hut sozusagen“, berichtet H. C. Artmann. „Seit aber Bräuchl an seinem Sechziger etwas über den Durst getrunken hatte und am nächsten Morgen mit einem Kontrabass erwacht war, ging es mehr und mehr bergab: Der arme Mensch! A Stimmerl wie a Wimmerl!“
1964 fasst Artmann im schwedischen Exil, in Malmö, in seinem Tagebuch die schillernden Figuren seiner Kindheit zusammen. Menschen, die der Tristesse in der Wiener Vorstadt Farbe gaben: „draußen am gang zeigen sich hin und wieder musikanten, feuerfresser, bettler, nachbarinnen mit hochgesteckten zöpfen, gefährliche wassermänner, geheimspitzel, soldaten und alte hexen …“
Mutter Marie erzählt ihm oft schön schaurige Geschichten. Märchen und Sagen aus dem alten Wien. Von der Hütteldorfer Hexenmühle, der alten Wahrsagerin vom Baumgartner Spitz und vom Wassermännlein im Wienfluss. Oder Unheimliches von Dämonen und Vampiren. Von Teufeln und Riesentötern, Waldmenschen und Zauberern. Die Großmutter bringt dem Buben all die seit Generationen überlieferten Zaubersprüche aus dem Waldviertel bei. Dort seien auch seine Wurzeln, im Wald, in der Natur, meint Artmann später: „… und die Oma hat gemeint, ‚wenn i beten wül, geh’ i net in die Kirchn, sondern in’ Wald zu an Bam‘.“
Am Wochenende fährt er mit den Eltern aufs Land. Mit dem Zug bis Retz und dann geht’s zu Fuß zu den Großeltern. Der Opa Aloys Schneider vulgo Schienerschneider, der nach „Honigwaben und Schießpulver roch, wie sich’s g’hört hat“, habe ihm in der Natur, im Waldviertel, „die wichtigsten Dinge erklärt. Und er ist mit mir auf die Jagd gegangen, in viel zu großen Gummistiefeln.“ Bald entwickelte er eine eigene Fantasie-Sprache, ein Gemisch aus melodischem Dialekt der Wiener Vorstadt und den bäuerlich-lyrischen Zaubersprüchen aus dem Waldviertel.
Das Schuhmachergeschäft und die Werkstatt des Vaters sind für Hans Carl der Schnittpunkt seiner Kindheit: „manche haben einen wald voller rotkehlchen – schuhmacher besitzen ahlen, beiß- und kneifzangen, bienenwachs, hämmer, klopfhölzer, kneipe, leisten, spirituslämpchen, verzierrädchen und anderes mehr … wenn der schuhmacher sein tagewerk beginnt, weicht er vorerst einmal das leder ein, dann trinkt er seinen morgenkaffee und spuckt sich in die hände.“
An der Wand des väterlichen Geschäftes hängt ein Spruch: „Scheissen und Brunzen sind Kunsten“ (Jahrzehnte später sollte dieser Spruch wieder auftauchen: bei Konrad Bayer und Gerhard Rühm.) Die Lehrbuben und Gesellen sprechen Italienisch, Tschechisch und Ungarisch. Das Schwadronieren, die G’schichterln von den Abenteuern mit tschechischen Ammen und Köchinnen, im Ringelspiel, der amerikanischen Schaukel, an den Schießbuden oder am Hasensteg und unterm Stadtbahnbogen vermischen sich zu einem Sprachgewirr.
Tschechen und Ungarn, vereinzelt auch Italiener und Polen, waren als Schuster und Schneider, Maurer und Tischler in Breitensee zu Hause. Die Slowaken erkannte man sofort als Kesselflicker, Scherenschleifer oder Händler, die mit Holzwaren von Haus zu Haus zogen. Und jede Gruppe hatte ihren eigenen Treffpunkt: Tschechen und Slowaken das Tanzlokal „Swoboda“ – wo am Wochenende bis in den frühen Morgen Blaskapellen aufspielten. Die Ungarn hingegen feierten im Wirtshaus „Koszaka“ in der Kuefsteingasse.
Und sogar echte Chinesen gab es dort schon damals. 70 Jahre später erinnert sich H. C. Artmann an das Chinesenviertel, das Chinatown von Breitensee. An Herrn Wang, den freundlichen, immer verlegen lächelnden Straßenbahnschaffner, oder den schmächtigen chinesischen Kohlen-Austrager aus der Kuefsteingasse 48, gleich neben seiner Volksschule. Die Chinesen von Breitensee hausten hier unter menschenunwürdigen Bedingungen, in Kellerräumen, Stockbett an Stockbett eingepfercht wie Tiere. An die 50 chinesische Arbeiter sollen es gewesen sein, die Mitte der 30er-Jahre plötzlich da waren. Als das faschistische Italien 1935 Äthiopien überfiel und zur Kolonie machte, wurden alle Chinesen aus Italien ausgewiesen. In Österreich fanden manche von ihnen eine neue Heimat. Und manche wurden vom Schicksal nach Breitensee verschlagen.
Der einzige Mensch, mit dem sich die Chinesen-Kolonie anfangs verständigen konnte, war der Fleischhauer Leopold Killmeyer in der Breitenseer Straße – bei dem auch Mama Marie Artmann manchmal einkaufte. Killmeyer, in den 1930er-Jahren Österreichs erfolgreichster „Sand-, Gras- und Dirt-Track“-Fahrer und als solcher vielfacher Staats- und mehrfacher Weltmeister, erinnert sich im Buch „Penzing – Vom Wienfluss zum Wienerwald“: „Diese exotischen Mitbürger waren Kunden in meinem СКАЧАТЬ