Название: H. C. Artmann - Bohemien und Bürgerschreck
Автор: Michael Horowitz
Издательство: Bookwire
Жанр: Изобразительное искусство, фотография
isbn: 9783800082070
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Der junge Artmann entwickelt unter dem Einfluss der vielen fremden Dialekte schon während der Volksschulzeit ein außergewöhnliches Sprachgefühl. Während der Hauptschule, im B-Zug, als zwölf- oder 13-Jähriger, liest er begeistert „domschakbiachln“, Abenteuer-Hefte vom Wunder-Detektiv Tom Shark, die in der Schule getauscht werden. Und führt als 15-Jähriger Tagebuch in Sanskrit, während seine Mitschüler aus der Hauptschule in der Lortzinggasse vom sensationellen „Slovan“-Sieg gegen die feldüberlegene „Austria“ schwärmen oder mit wassergefüllten Präservativen in der Klasse herumschießen.
Durch die populären Tom-Shark-Groschenhefte, ihre Helden und Schurken aus Nah- und Fernost ist Hans Carl von den fernen Welten so fasziniert, dass er sich in deren exotische Sprachen vertieft. Assyrische Vokabeln notiert er penibel in einem Heft, das autodidaktische Sprachstudium des Hauptschülers beginnt.
Und er beginnt wie besessen zu lesen. Eskimo-Märchen und keltische Sagen, althochdeutsche Literatur und arturische Epen. In seiner 14-köpfigen Bauernfamilie war Literatur nie gegenwärtig: In einem Interview mit der „Neuen Zürcher Zeitung“ erzählt der Schriftsteller 1997: „Nix hamma g’habt. Den Soldatenkalender und den lustigen Bauernkalender … Ich bin von Haus aus Niederösterreicher. Meine Mutter mochte Wien nie. Obwohl sie seit 1914 in Wien war. Das überträgt sich dann irgendwie … den Wiener Dialekt habe ich zu Hause nicht gesprochen. G’schert hamma gredt. Niederösterreichischen Dialekt, Bauernsprache. Die ist solider …“
Nach der Hauptschule wird Hans Carl für drei Jahre Büropraktikant in einer „Chinasilber-Erzeugung“. Jeden Tag in der Früh geht er zu Fuß von Breitensee in die Zieglergasse. Mittags schnell zurück nach Hause, wo die Mutter mit dem Essen wartet. Und dann die vier Kilometer wieder zurück in die Firma. Weil der Inhaber der Firma Ignaz Freisinger fast nie im Büro war, konnte der kaufmännische Lehrling den ganzen Tag lesen, vor allem Sprachlehrbücher. „Die Post und die Buchhaltung musste ich dem Herrn Freisinger immer ins Café Tuchlauben bringen. Dort hat er jeden Tag tarockiert. Die Firma war ihm ziemlich gleichgültig, er war ein sehr einsamer Mensch, seine ganze Familie lebte in Palästina.“
Einmal pro Woche besucht der Handelsgehilfe Artmann die Handelsschule in der Skodagasse. Am frühen Abend, nach der Arbeit im Büro, kommt er wieder nach Hause, zur Mutter in die Kienmayergasse. Jene Gasse in Breitensee, die im 18. Jahrhundert nach Johann Michael Kienmayer benannt wurde, dem Besitzer der Herrschaft Breitensee, dem wohltätigen Gründer eines Waisenhauses. Als dort am Rennweg 1768 eine Kirche geweiht wurde, schrieb der zwölfjährige Wolfgang Amadeus Mozart eine Messe für den Festakt – die „Waisenhausmesse“. Und das Wunderkind Mozart dirigierte die Uraufführung, im Beisein von Maria Theresia und Josef II., selbst.
Nur etwas älter als damals Mozart – Hans Carl ist 14, 15 Jahre alt – träumt er von der Welt draußen, von der Magie exotischer Länder. Er unternimmt Reisen im Kopf, „im Ballon von Niedercalifornien nach Krain, mit Werwolfsjägern ins koloniale Indien, mit Frankenstein nach Sussex …“.
30 Jahre später beginnt er seine Geschichte „Frankenstein in Sussex“ – die an fantasiegeladene Märchen erinnert – mit dem Satz: „Sie werden das, was ich ihnen jetzt erzähle, kaum glauben, aber die folgenden vorfälle entsprechen tatsächlich der wahrheit“, um dann Frau Holle mit Mary Wollstonecraft Shelley als Kontrahentinnen zusammenzubringen.
Seine reale Umgebung, die Wiener Vorstadt – zwischen Basesse und Bassena – erscheint dem Heranwachsenden bald ziemlich eintönig, bar jeder Mystik: „Ich bin aufgewachsen. Jeder Sommer ist vergangen wie der andere. Ich bin nicht rausgekommen. Ich bin durch den weichen Asphalt marschiert und habe Holunder gerochen …“ Über seinem Diwan hat er eine Karte mit den Reiserouten Don Quixotes aufgehängt. Im „Register der Sommermonde und Wintersonnen“ schreibt er später: „… im traum suche ich immer das weite und erwache im bett. frage: wie weit ist mein bett vom traum entfernt?“
Aus Sehnsucht nach den Abenteuern in weit entfernten Gegenden will er frei und unbeschwert wie ein Vogel sein, von einem fernen Baum zum anderen fliegen. Fremde Sprachen, die er sich selbst beibringt, sollen ihm dabei helfen. Er macht sich mit spielerischer Leichtigkeit Grammatik, Vokabeln und schwierigste Satzkonstruktionen untertan. Er erfindet nebenbei gleich neue Dialekte und imaginäre Sprachkombinationen: „Worte haben eine bestimmte magnetische Masse … sie sind gleichsam ‚sexuell‘, sie zeugen miteinander, sie üben Magie, die über mich hinweggeht, sie besitzen Augen, Facettenaugen wie Käfer … und schauen sich unaufhörlich und aus allen Winkeln an …“
In einem Nachruf liest man im deutschen Feuilleton: „Ein Artmann, der kannte sich aus in Nord und Süd, er kannte den Amselschlag nicht nur auf Englisch, sondern auch ihr gallisches Schnäbeln, er hatte ihre italienischen Cousinen in der Hand und kannte das Tyk-tyk ihrer schwedischen Schwestern.“
H. C. Artmann soll sich mit mehr als 25 Sprachen und Dialekten, darunter Aramäisch, die er sein Leben lang nie sprechen gehört hat, beschäftigt haben. Zwischen der Lektüre der geliebten Schund-Heftln – mit Abenteuern von Tom Shark, Jörn Farrow, Rolf Torring und den Bravourstücken des Gentleman-Diebs Lord Lister – studiert er Grammatiken und Wörterbücher in Assyrisch, Malaiisch, Samoanisch. Und Walisisch-Irisch: Ein Onkel, Hauptschuldirektor im Waldviertel, hatte ihm zum 13. Geburtstag ein Lehrbuch der walisischen Sprache geschenkt.
Bereits im Alter von 15 Jahren kreiert er unter dem weltmännischen Pseudonym „John Hamilton“ Detektivgeschichten. Das Spiel beginnt. Das lebenslange virtuose Spiel mit der Sprache, mit dem Verkuppeln von Dialekt und Surrealismus: H. C. Artmann – der „kurfürstliche sylbenstecher“, wie er sich selbst gerne nannte, beginnt bereits als 15-Jähriger zu schreiben. Über die Abenteuer eines Detektivs.
MELDEZETTEL DER KINDHEIT
Breitenseer Budl-Busen und Zorro, der Rächer der Würstelmänner
Die Poesie der Wiener Vorstadt, die Exotik vor der Haustür, prägt das Werk H. C. Artmanns. Der Meister des Fantastischen und Surrealen, der ständig in fernen Ländern und fremden Sprachen unterwegs ist, vergisst den Meldezettel seiner Kindheit, den Heimatschein seiner Jugend, nie. Breitensee lebt fort. In den Genre-Szenen aus der Vorstadt, den unsentimentalen, skurrilen Skizzen wienerischen Alltags, die an das literarische Raritätenkabinett des Fritz von Herzmanovsky-Orlando oder Heimito von Doderer erinnern.
Auch Artmanns Typen, seine Helden der Peripherie, lassen barocken Humor und surrealistische Züge erkennen. Artmann entwirft Bilder, die auch von Manfred Deix stammen oder in Elizabeth T. Spiras ORF-„Alltagsgeschichten“ vorkommen könnten. Bei Artmann sind es lebensnahe Beobachtungen, die sich in ausgefeilter Sprachkunst wiederfinden. Er hält die Typen des alten, urtümlichen Wiens für immer lebendig, weil er über sie schreibt. Er beobachtet sie genau und reichert sie voll ausschweifender Fantasie zu einem Kaleidoskop von Wiener Typen an.
Wie in den 1983 erschienenen Skizzen „Im Schatten der Burenwurst“: Er berichtet von Zorro, dem Rächer der Würstelmänner, der in einer lauen Vollmondnacht einem nadelgestreiften Kunden mit der Senfspritze ein großes gelbes Z auf das feine Tuch applizierte, nachdem dieser meinte, „die Burenwurscht da is vom Gigara, do loß i mi eineschtechn, waun des Heidl ned zu hundat Prozent vom Roßfleischhocka schdaumt!“
Es sind stimmungsvolle Genrebilder einer bunten, lebendigen СКАЧАТЬ