Название: Thomas Mann. Die frühen Jahre
Автор: Herbert Lehnert
Издательство: Bookwire
Жанр: Изобразительное искусство, фотография
isbn: 9783835344822
isbn:
In München behandelte Dr. Albert Freiherr von Schrenck-Notzing Homosexuelle, geleitet von der Annahme, dass die Homosexualität eine krankhafte Störung sei, die in der frühen Jugend eine Ursache habe und durch Hypnose zu heilen sei. Schrenck-Notzing verfasste die Monographie Die Suggestions-Therapie bei krankhaften Erscheinungen des Geschlechtssinnes. Mit besonderer Berücksichtigung der conträren Sexualempfindung (1892). Er hatte schon 1888 einen Homosexuellen durch Hypnose dahin gebracht, dass er in einem Bordell einen normalen Coitus vollzog.[83] Vermutlich war der Geheilte bisexuell. Seitdem behandelte Schrenck-Notzing Homosexuelle in seiner Münchener Praxis und beschrieb Erfolge in einem Buch.[84] Durch Experimente mit Hypnosen, die in metaphysische und parapsychologische Bereiche vordringen wollten, machte er von sich reden. Thomas Mann muss von ihm gewusst haben. Er notierte sich seine Adresse erst nach Januar 1899 in Notizbuch 3 (Nb.I, 167).[85] In den zwanziger Jahren nahm er an Schrenck-Notzings Experimenten teil. Thomas Manns Pläne zu einem Berlin-Aufenthalt im August 1895 könnten eine mögliche Konsultation Albert Molls vorgesehen haben. Die erhaltenen Briefe an Otto Grautoff lassen allerdings eher den Schluss zu, dass Thomas Mann sich entschieden hatte, mit seiner Bisexualität zu leben. Er fuhr damals nicht nach Berlin.
Die Briefe an Otto Grautoff I
Eine allzumenschliche Seite des angehenden Schriftstellers Thomas Mann lernen wir kennen in seinen Briefen an den Lübecker Schulfreund Otto Grautoff. Im Lebensabriss von 1930 charakterisierte Thomas Mann die Beziehung zu diesem Freund, auf die Schulzeit zurückblickend, so:
Fast während der ganzen Dauer dieser stockenden und unerfreulichen Laufbahn verband mich mit dem Sohn eines fallierten und verstorbenen Buchhändlers eine Freundschaft, die sich in phantastischem und galgenhumoristischem Spott und Hohn über »das Ganze«, namentlich aber über die »Anstalt« und ihre Beamten bewährte.[86]
Die Freundschaft hielt mehr als zehn Jahre über die Schulzeit hinaus und manifestierte sich in Form eines Briefwechsels, von dem nur Thomas Manns Handschriften erhalten sind; sie beginnen im September 1894. Es ist nicht der gesamte Briefwechsel erhalten, einige der Briefe liegen nur zerrissen oder in miserablem Zustand vor.[87] Was erhalten ist, ist unentbehrlich für unser Verständnis von Thomas Mann.
Grautoff war ein Jahr jünger als sein Freund und lange sein Mitschüler. Er kam aus einer gut-bürgerlichen, aber verarmten Familie. Ein Großvater war Bibliotheksdirektor. Grautoff wollte Schriftsteller werden; seine Familie besorgte ihm eine Lehrstelle in einer Buchhandlung in Brandenburg an der Havel. Grautoff hatte im April 1894 diese Lehre begonnen und litt unter seiner eingeschränkten Existenz als armer Lehrling im provinziellen Brandenburg. Thomas Mann dagegen war seine Lehre losgeworden, hatte die Erzählung Gefallen geschrieben, die im November veröffentlicht werden sollte und erfreute sich seiner Freiheit.
Obwohl Thomas Mann während des letzten Schuljahres die Freundschaft eines Grafen Vitzthum und einiger anderer Mitschüler vorgezogen und die mit Grautoff vernachlässigt hatte (21, 49), hielt dieser an der Beziehung fest und suchte Rat und Hilfe von Thomas Mann. Auch er wollte schreiben, wollte die Lehre in Brandenburg aufgeben, nach Berlin ziehen und sich dort durch freie Mitarbeit in Zeitungsredaktionen über Wasser halten. In seinem ersten erhaltenen Brief vom September 1894 rechnete Thomas Mann dem Freund realistisch vor, dass er in Berlin mit den geringen Mitteln, die er von seiner Familie bekam, nicht seinen Lebensunterhalt bestreiten könne. Im folgenden Brief vom 22. September spottet er über eine andere Idee Grautoffs, der ihm verkündet hatte, zur Bühne gehen zu wollen. Als »Antrittsrolle« empfiehlt Thomas Mann dem Freund, zwischen Romeo und Julia zu wählen. Nach einer nicht mehr leserlichen, bewusst getilgten Passage heißt es weiter: »und würdest durch wahres Empfinden eine unsägliche Wirkung erzielen, etwa bei den Worten: ›Komm, Nacht … […]‹«. Thomas Mann zitiert aus der deutschen Übersetzung des Monologs der Julia, in Shakespeares Romeo und Julia, dritter Akt, zweite Szene, in der Julia ihr Liebesverlangen ausspricht. Julia sehe nichts als Unschuld in inniger Liebe Tun. Diese Worte unterstreicht Thomas Mann und fügt hinzu: »Verzeih, wenn ich neckisch wurde« (21, 29). Wer den Text des Briefes verstümmelt hat, wollte etwas Peinliches verbergen. Das »Tun in inniger Liebe« im Monolog der Julia ist der Vollzug ihrer heimlichen Ehe. Vermutlich hat Grautoff während der Gespräche in Lübeck über beider homoerotische Sehnsüchte oder in einem seiner Briefe erklärt, dass er seinen Freund Thomas liebe. Ein solches Geständnis würde Thomas’ Gefühl der Überlegenheit gegenüber Grautoff erklären. Auf Thomas Manns Spott muss Grautoff empfindlich und zornig reagiert haben. Thomas schreibt im nächsten Brief, er habe von seinem Freund »wuchtige Schläge« erhalten, dabei habe er nur »Spott und Ulk« ausdrücken wollen (TM / OG, 9). Die Freunde nannten eine satirisch übertreibende Sprache, die es mit der Wahrheit nicht allzu genau nahm, »gippern« (21, 28).
Bald lenkt Thomas Mann ein und gesteht auch seine Liebe im Brief vom 5. März 1895. Er sehe es nicht als unangenehm an, was Grautoff über ihr Verhältnis geschrieben habe. Oft sehne er sich jetzt, entfernt in München, »nach unseren merkwürdigen Zusammenkünften« und »warum soll ich es nicht sagen – nach dir«. Er habe viele Freunde in München, »aber wirklich befreundet, wirklich intim bin ich doch nur mit einem gewesen, und das warst du«. Er will aber auch Diskretion: Er hätte Grautoff in letzter Zeit viel mitzuteilen gehabt, aber schriftlich ginge das nicht (21, 42). Ein folgender Brief ergänzt: »Wir waren schamlos voreinander, in einem intellektuellen Sinn, und wir verständigten uns über die heikelsten Intimitäten«, in einer Weise, die »kein anderer verstanden hätte« (21, 50).
Das ist so zu deuten: Während der Schulzeit in Lübeck trafen die Freunde sich in einem Restaurant und sprachen in intimen Andeutungen über ihre erotischen Gefühle, die sie vor der Familie verleugnen oder verbergen mussten. Das Gespräch mit dem intimen Freund konnte den Druck, der die Freunde zur Heimlichkeit gezwungen hatte, mindern, und diese Erleichterung fehlt dem Briefschreiber jetzt. Seine Beziehung zu Grautoff ist erotischer Natur, aber gestört durch einen immer wieder auftretenden Drang, Grautoff herabzusetzen,[88] vielleicht weil er einen Ausgleich brauchte für sein Gefühl der Unterlegenheit gegenüber seinem Bruder Heinrich. Grautoff scheint auf Thomas’ Bekenntnis skeptisch reagiert zu haben, was Thomas Mann ausgleichen will, indem er zugibt, in Lübeck seine Freundschaft mit Grautoff vernachlässigt zu haben.
Im Brief vom 5. März 1895 antwortet Thomas Mann auf Gedanken über die Liebe, die Grautoff in seinen Briefen geäußert hatte. Grautoff brauche den Unterleib nicht ganz und gar zu verachten, denn er enthalte viel »Poesie«, wenn man ihn mit »Gemüt und Stimmung« umwickele: »du darfst es aber gern; ich thu’s nämlich auch«. Denn auch Thomas Mann habe sich zum Asketen entwickelt СКАЧАТЬ