Thomas Mann. Die frühen Jahre. Herbert Lehnert
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Название: Thomas Mann. Die frühen Jahre

Автор: Herbert Lehnert

Издательство: Bookwire

Жанр: Изобразительное искусство, фотография

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isbn: 9783835344822

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СКАЧАТЬ wählte Ernest Renan, einen Religionswissenschaftler, als Beispiel für die Fähigkeit, sich in viele Glaubensformen einzufühlen, sie gelten zu lassen.[23] Diese Toleranz hat auch im modernen Roman einen Platz. Renan hatte, wie Baudelaire, seinen katholischen Glauben aufgegeben, ohne ihn durch eine Ersatzreligion zu ersetzen. Bourget schätzte an Renan, dass er nicht-christlichen Glaubensformen einen religiösen Wert zugestand. Die Kunst, sich in andere Menschen einzufühlen, nennt er »Dilettantismus«, ein Wort, das ursprünglich wohlhabende Menschen bezeichnete, die Künstlerisches leisteten, ohne von ihren Produkten leben zu müssen. Diese Herkunft hängt dem Begriff noch an: die Dilettanten Bourgets sind oft die Söhne erfolgreicher Väter, die Kunst genießen, aber selbst nicht mehr kreativ sind. Einmal unterscheidet Bourget die modernen Dilettanten von älteren, vielseitig begabten Künstlern wie Leonardo, Montaigne, Shakespeare. Diese waren kreativ, die modernen sind es kaum noch.[24] Der Dilettantismus ist ein Begriff, der zwischen dem Positiven, der Sehweise des Künstlers und dem Negativen, der fehlenden oder schwindenden Kreativität, schillert.

      Modern ist auch der Kosmopolitismus, für den der Bourget der Essais den vielgereisten Romanschriftsteller Stendhal (Marie-Henri Beyle) als Beispiel hinstellt.[25] Kosmopolitismus, Multiperspektivismus, die Einfühlung in fremde Welten, gilt als eine Form des Dilettantismus. Mit seinem Roman Cosmopolis (1892) wendet Bourget sich gegen die Praxis des modernen Dilettantismus zugunsten konservativer Werte. Am Ende des Romans empfiehlt ein Altgläubiger einem kosmopolitischen modernen Dilettanten die Rückkehr zu den Sicherheiten des katholischen Glaubens.

      Eine Kunst der Dekadenz, die sich wenig um Fortschritt in die Zukunft kümmerte, war attraktiv für den Kaufmannssohn, der in die Kunst entlaufen war. Aber für die Praxis des dilettantischen Kosmopoliten reichte Heinrichs kleine geerbte Rente nicht.

      Ich führe das kosmopolitische Leben so gut wie es bei so beschränkten Mitteln, wie die meinen sind, angeht. Ich pflege die verschiedenen Kultursprachen, lebe das Leben der verschiedenen Länder, genieße überall die eigentümliche Kunst; das genügt jedoch nicht. Ich bin an kleine bürgerliche Pensionen gebunden […]. Mein Gesichtspunkt ist kein freier, über den Interessen und unrealisierbaren Wünschen stehender, es ist der der mehr oder weniger leeren Tasche, der durch alle Einbildungskraft und den möglichen Dilettantismus niemals so weit korrigiert werden kann, dass[26] er zu denselben Resultaten gelangt, wie diejenigen einer gesättigten Existenz.[27]

      Bourgets Zweifel an dem Wert seiner dekadenten, dilettantischen und kosmopolitischen Freigeistigkeit wurden in den 90er-Jahren – also zu der Zeit, als Heinrich Mann sich für Bourget begeisterte – zu einer entschiedenen Absage an die Modernität. Der Thesen-Roman Le Disciple (1889) lässt einen Philosophen eine positivistische, deterministische Psychologie entwickeln und vertreten. Seine Lehre wird fragwürdig, als er mit der Schuld eines Schülers belastet wird. Der junge Mann hatte sich durch die Lehren des Philosophen von dem katholisch-christlichen Glauben und von der alten Moral befreit gefühlt; er hat sich davon überzeugt, dass nur das eigene Ich wirklich sei und will die Stärke seiner Lehre beweisen, indem er die Tochter eines adligen Hauses dazu bringt, sich in ihn zu verlieben. Die Betrogene tötet sich. Bevor ihr Bruder den Verführer erschießt, hat dieser seinem Lehrer sein Experiment erklärt und den Philosophen erschüttert. Bourget leitet seinen Roman ein mit einem Brief an einen jungen Franzosen, den er aufruft, an der Gesundung Frankreichs nach seiner Niederlage 1871 teilzunehmen. Bourget meinte das in konservativem Sinn, als Gegner der Dritten Republik. Heinrich, der bald selbst konservative Neigungen entwickeln wird, blieb lange Sympathisant Bourgets. Er verstand Le Disciple eher als Bourgets selbstkritische Analyse der Moderne denn als konservatives Manifest.

      Heinrich Manns Haltlos

      Heinrich probierte die neue nach-naturalistische Schreibart in einer Erzählung, deren Titel Haltlos er von einem Gedicht der Wiener sozialkritischen Schriftstellerin Ada Christen übernahm.[28] Deren Verse evozieren »Vagabunden des Lebens« und »moderne Zigeuner«, die nach außen keck seien, aber nach innen »verjammert«,[29] nämlich bindungslos und unglücklich. Das moderne Streben nach Freiheit hat problematische Konsequenzen. Diese erfährt die Hauptfigur in Heinrich Manns Erzählung, ein junger Mann ohne Namen, der fast den ganzen Text hindurch die Perspektive bestimmt. Sein sozialer Stand gibt ihm keine Sicherheit. Der Buchhändler-Lehrling muss täglich ins Geschäft gehen, obwohl er wie sein Autor der »Sohn eines vornehmen Hauses« ist.[30] Er hat genug Taschengeld, um in Restaurants zu speisen und Prostituierte zu bezahlen. Wie sein Autor hat er die Schule vorzeitig verlassen. Erotische Gefühle will er nicht in bürgerliche Konventionen lenken, und der Text analysiert sie in der Weise von Bahr und Bourget, die statt der »Naturstände« des Naturalismus »Seelenstände« zum Gegenstand der Literatur machen wollten.

      Ihm ist eine junge Verkäuferin in einem Zigarrenladen aufgefallen. Aus ihrem Benehmen hat er geschlossen, dass auch sie eine Außenseiterin ist und daher zu ihm passt. Weil die junge Frau so anders ist als die Bürgertöchter, möchte der Mann ihr seine Scham beichten, nachdem er, von Kollegen eingeladen, ein Bordell besucht hat und sich nachher »gefallen« vorkommt, gefallen vor ihr, der unbürgerlichen jungen Frau.[31] »Gefallen« ist das Wort, das Thomas Mann zum Titel einer Erzählung wählen wird, mit der er auf Haltlos antwortet. Die Anziehung, die sie auf ihn ausübt, ändert sich, als die junge Frau ihm ihre Notlage erklärt. Ihr kleines Gehalt reicht nicht für die Medizin, die ihre Mutter benötigt. Ihr Hauswirt hat ihr das Geld geliehen, dreißig Mark. Das Darlehen will er tilgen, wenn sie ihm zu Willen ist. Sie hat den Verdacht, dass er sie danach als Prostituierte ausbeuten will.

      Wenn der junge Mann ihr das Geld gibt, nimmt er die traditionelle Rolle des männlichen Versorgers an, der die Frau wie seinen Besitz betrachtet. Die verarmte Kleinbürgerin fühlt »herzenswarm: er war ihr nun alles«,[32] sie spürt aber auch, dass seine nihilistische Indifferenz, sein Dilettantismus ihn hindern wird, sie zu heiraten. Sie will mit ihm die freie Liebe erfahren, bevor sie ihren Erpresser-Hauswirt bezahlt. Sie lädt ihn ein und gibt sich ihrer Liebe hin. Am nächsten Tag schickt sie ihm einen Brief, in den sie die dreißig Mark einlegt, die er ihr geschenkt hatte. Sie hat ihre Schuld bei ihrem Hauswirt auf die geforderte Art getilgt. Einmal wollte sie frei lieben, obwohl sie weiß, dass sie jetzt Prostituierte für ihr ganzes Leben geworden ist.

      Für den jungen Mann war die Liebesszene nur ein »Rauschen und Drängen des eigenen Blutes« gewesen,[33] wie manches Mal zuvor. Er hatte die konventionelle Doppelmoral verinnerlicht: das »Recht des Mannes«, das Ziel der geschlechtlichen Vereinigung zu erreichen, während es »Pflicht des Weibes sei, den Weg dorthin zu verlegen«.[34] Bevor er den Brief seiner Liebhaberin erhält, hatte er überlegt, wie er sie loswerden könne. Ein »guter Kerl«, ein guter Bürger, würde sich verpflichtet fühlen, sie zu heiraten. Aber das kommt für den haltlosen und modernen Dilettanten nicht in Frage, er muss bindungslos bleiben. Er kann sie nur mit Geld loswerden, also auf gewöhnliche Art. Ihr Brief beweist, dass sie freier war als er, der nur den üblichen Konventionen folgen wollte. Ihr freier Entschluss, ihm und sich selbst die freie Liebe zu schenken, solle ihn gut machen, schreibt sie ihm. Er solle an ihrer beider reine Liebe denken und nicht mehr ganz haltlos sein, wissend, dass es das Gute gibt.[35] In der bürgerlichen Ordnung, die durch Besitz bestimmt ist, kann eine freie Liebe nicht dauern.

      Mit den Grenzen, die die bürgerliche Ordnung der freien Liebe gesetzt hatte, beschäftigt sich auch Heinrichs Skizze, Freie Liebe, die er im September 1891 in Berlin aufzeichnete. Er hatte von Prostituierten erfahren, wie sehr diese die »Doppelmoral« verinnerlicht hatten. Eine Frau, »die einen außerehelichen geschlechtlichen Akt begangen hat«, meint eine der Prostituierten, befinde sich immer »im Bewusstsein einer Schuld«. Heinrich Mann schließt aus solchen Äußerungen: »Die Zahl der Frauen der Gegenwart also, mit denen man in wirklicher, d[as] h[eißt] geistig freier, Liebe leben könnte, ist minimal.«[36] Eine solche Frau hat er sich in Haltlos konstruiert, aber so, dass ein freies Liebesverhältnis gerade nicht entstehen kann, weil die junge Frau sich der Doppelmoral unterwirft.

      Eine junge Frau, die mit ihrem Leben gegen die Konventionen СКАЧАТЬ