Else Ury: Die beliebtesten Kinderbücher, Romane, Erzählungen & Märchen (110 Titel in einem Band). Else Ury
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Читать онлайн книгу Else Ury: Die beliebtesten Kinderbücher, Romane, Erzählungen & Märchen (110 Titel in einem Band) - Else Ury страница 271

СКАЧАТЬ freundlich sachlichen Ton ihr gegenüber wie gegen die Schwestern. An den wenigen freien Abenden, die ihm seine Tätigkeit gönnte, war er meistens mit seiner Schwester Ola zusammen, die seit Weihnachten in Berlin studierte. Sie wohnte bei einer bekannten Familie, hielt aber eifrig Umschau nach einer kleinen Wohnung für sich und den Bruder. Das war recht schwer. Denn die Wohnungsknappheit hatte sich in Berlin zu einer wahren Wohnungsnot gesteigert. Kamen Rudolf und Ola wirklich mal abends zu ihnen, dann gab es medizinische Fachgespräche mit dem Vater, oder es wurde Skat gespielt. Manchmal plauderte man auch von den gemeinsamen schönen Wochen in Blaubeuren. Von der Nebelhöhle sprachen weder Rudolf noch Annemarie.

      Ach, Doktors Nesthäkchen hätte gar zu gern gewußt, ob es ihm schwer wurde, ihrem Wunsch, Vergangenes vergangen und vergessen sein zu lassen, zu willfahren. Es sah nicht danach aus. Er schien sich ganz gut darein gefunden zu haben. Annemarie biß sich wütend auf die Lippen. Ein düsterer Tintenklecks zierte den Krankenbericht.

      »Fräulein Braun, Herr Doktor läßt bitten zur Visite.« Eine weiße Schwesternhaube erschien in der halbgeöffneten Tür und verschwand wieder.

      Annemarie warf die Feder hin, daß neben dem Klecks noch ein paar niedliche Spritzerchen prangten.

      Sollte sie seinem Wunsch nicht nachkommen? Sich mit Kopfschmerzen entschuldigen lassen? Nein, das sah feige aus. Dann bildete er sich noch womöglich ein, daß sie sich was aus seiner Unzufriedenheit machte. Pah – nicht soviel! Nesthäkchen schnippte gleichmütig mit den Fingern, während die Tränen, die ihr ärgerlicherweise schon wieder in die Augen schossen, vom Gegenteil erzählten.

      Der Assistenzarzt war bereits im Kindersaal, als Annemarie denselben betrat.

      »Tante, komm her – zu mir zuerst, Tante Annemarie – hast du auch an das Märchenbuch gedacht? – Tante, morgen darf ich vielleicht aufstehen, sagt Onkel Doktor –«, jubelnd wurde Annemarie von den kleinen Patienten empfangen. Die lustige Tante, die mit den kleinen Kranken scherzte und spielte, hatte sich im Sturm die Kinderherzen erobert.

      Heute lachte die Tante Annemarie nicht. Ernst trat sie an das Bett des kleinen Paul, über das Rudolf Hartenstein sich gerade untersuchend neigte.

      »Die Schwellung geht zurück – bitte, wenn sich’s davon überführen wollen, Fräulein Kollega.« Als ob nicht das geringste vorgefallen wäre, machte er sie auf Einzelheiten der verschiedenen Krankheiten aufmerksam. Von Bett zu Bett – kleine abgemagerte Ärmchen streckten sich Annemarie zärtlich entgegen.

      Da nahm die ernste Miene, die eigentlich gar nichts in Annemaries rosigem Gesicht zu suchen hatte, vor all der Freude, die ihr Erscheinen auslöste, Reißaus. Sie vermochte sich wieder mit Karlchen zu necken, dem Urselchen, das so arge Schmerzen hatte, gut zuzureden, bis es dem Onkel Doktor sein »Wehweh« zeigte, und an all den kleinen Freuden und großen Leiden so liebevollen Anteil zu nehmen wie sonst.

      »Tante Annemarie soll das Pflaster auflegen, Tante tut nicht weh –,« weinte das kleine Ding.

      »Tante Annemarie kann auch weh tun und findet halt nimmer das Pflaster für die Wunde.« Der junge Arzt sprach es leicht scherzend zu dem weinenden Kinde. Er tat, als bemerke er es nicht, daß seine junge Begleiterin blaß und rot wurde. Es war das erstemal seit ihrem Gespräch auf dem Ulmer Münster, daß er mit einem Wort daran rührte.

      Der Kindersaal war durchwandert. Weiter zur Frauenstation. Stumm schritten die beiden weißen Kittel nebeneinander her.

      »Es muß Ihnen doch Freude machen, daß Ihnen von unsern Mädle und Buben hier halt so viel Liebe entgegengebracht wird«, begann der Assistent, nachdem er sein schweigsames Fräulein Kollega ein paarmal von der Seite angesehen.

      Keine Antwort. Doktors Nesthäkchen schien noch zu schmollen.

      »Seien’s doch nit kindisch, Fräulein Annemarie. Ich mein’s halt nimmer bös’, wenn ich auch mal aus der Haut fahr’. Zum Kuckuck, Sie sind halt hier, um zu lernen.«

      »Aber nicht, um mich wie ein dummes Ding abkanzeln zu lassen«, sprudelte es da von Annemaries Lippen. »Wenn die Kleinen nicht wären mit ihrer Zärtlichkeit, hielt ich es überhaupt hier nicht aus. Mit einem guten Wort kann man alles bei mir erreichen. Aber Zurechtweisungen gegenüber werde ich störrisch – die verbitte ich mir.«

      »So–o«, sagte Dr. Hartenstein und suchte vergeblich ein belustigtes Schmunzeln zu verbergen. »Ich hab’ halt geglaubt, es tät’ Ihnen nimmer was an liebevoller Behandlung liegen.«

      »Aber an höflicher!« Doktors Nesthäkchen schoß das Blut ins Gesicht. »Schlimm genug, daß ich Ihnen das erst sagen muß.« Der Mund lief wieder mal mit ihr davon.

      »Sie haben mir halt schon so manches gesagt, was Ihnen am End’ hinterher leid gewesen ist. Ich will annehmen, daß es mit Ihren letzten Worten das gleiche sein wird.« Das klang wieder ernst zurechtweisend.

      Rudolf Hartenstein öffnete die Tür zur Frauenabteilung. Nur noch sachliche Worte fielen. Auch später bei dem gemeinsamen Mittagessen der Ärzte und Ärztinnen sprachen sie nicht miteinander. Als Jüngste hatte Annemarie ihren Platz ganz am Ende des Tisches. Für gewöhnlich nahm sie überhaupt nicht an der Mahlzeit teil, sondern pflegte zu Hannes Ärger daheim nachzuexerzieren. Nur wenn sie »Tagesdienst« hatte, speiste sie mit den andern. Die Assistenzärzte und die Volontäre, männlichen wie weiblichen Geschlechts, mochten die ebenso liebenswürdige wie liebreizende junge Studentin gern. »Unser Nesthäkchen« hatte eine der älteren Ärztinnen sie eines Tages genannt, und die andern hatten die Bezeichnung lachend aufgegriffen. So war Doktors Nesthäkchen der Kindername selbst ins ernste Krankenhaus gefolgt. Nur Rudolf gebrauchte den Scherznamen nicht. Er nannte sie dienstlich Fräulein Kollega, privatim Fräulein Annemarie.

      Bei Doktor Brauns saß man abends auf dem in maigrüne Lindenwipfel hinausgehenden Balkon. Vera Burkhard und Margot Thielen waren zu Besuch bei Annemarie. Denn diese hatte jetzt nur noch abends Zeit für die Freundinnen. Die dienstfreien Nachmittage studierte Annemarie medizinische Bücher, um möglichst bald das Physikum machen zu können.

      »Na, so ‘ne Varricktheit!« Hanne machte ein Gesicht wie eine Bulldogge – »nu haben wa unser Nesthäkchen jlücklich wieder, und es is jrade so, als ob se noch mang de Schwaben wäre.« Hanne hatte keine ganz klare Vorstellung von den Schwaben. Sie mußte immer dabei an die ekligen schwarzen Käfer denken, die des Nachts öfters aus der Wasserleitung hervorgekrochen kamen. »Morjens in aller Herrjottsfriehe jeht se schon heidi ins Klinik, und meistens jeht se abends erst wieder auf wie der Mond. Zeit is doch nu wirklich, daß se ooch mal was Reelles lernen tut. Was de jnädje Frau Jroßmamachen is, die tut janz jenau so denken wie ich. Aber die Herren Eltern wollen ja nu mal keine Vernunft nich annehmen.« So beklagte sich die treue Alte bei jedem, der’s hören wollte oder nicht.

      Frau Doktor mußte fast täglich Hannes Herzensergüsse über sich ergehen lassen. Sie begegnete denselben mit Humor. Gott, sie hatte sich eigentlich ja auch vorgestellt, daß sie mal mehr von ihrer erwachsenen Tochter haben würde. Sie hätte sie recht gern während der Sommermonate daheim behalten. Aber davon wollte weder ihr Mann, noch Annemarie etwas wissen. Und wenn man im Krankenhaus tätig ist, kann man nicht zu gleicher Zeit hauswirtschaftliche Pflichten erfüllen. Das sah die verständige Frau ein. Ihr Mann fand es erstaunlich, wie strebsam und zielbewußt ihr übermütiges Nesthäkchen geworden war. Er hätte es seiner lustigen Lotte nie zugetraut, daß sie so viel Ernst und Beharrlichkeit für das Studium aufbringen würde. Und wenn es zum Glücke ihres Kindes war, mußte sich Mutterliebe selbstlos bescheiden.

      Ja, aber war es denn auch zu ihres Nesthäkchens Glück? War ihre Lotte wirklich frohbefriedigt durch ihre Tätigkeit am Krankenhaus? Mutteraugen sehen mehr als andere Augen. Die bemerken den feinen Schleier, der manchmal über strahlenden СКАЧАТЬ