Название: Else Ury: Die beliebtesten Kinderbücher, Romane, Erzählungen & Märchen (110 Titel in einem Band)
Автор: Else Ury
Издательство: Bookwire
Жанр: Книги для детей: прочее
isbn: 9788027238491
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»Jetzt gehen’s ‘nunter, ohne Widerred’«, verlangte er mit Bestimmtheit.
Nesthäkchens Trotz bäumte sich auf und gab ihr die verlorene Kraft zurück.
»Gleich sind wir oben.« Mit zusammengebissenen Zähnen und Aufbietung aller Energie zwang sie sich, die letzten Stufen zurückzulegen.
Mit lautem Hallo wurden sie droben auf der Aussichtsgalerie empfangen.
»Wir haben halt g’dacht, Neschthäkche, du wärscht wie der Schneider von Ulm durch d’ Luft ‘nuntergefloge als allerneueste Schwabestreich«, zog sie Krabbe auf.
»Hascht auch nit wieder was auschg’fresse?« Neumann betrachtete sie mißtrauisch.
»Na, sehkrank mit h geschrieben, Annemie? Du siehst aus wie weißer Käse. Es ist wohl doch nicht so einfach, als Erdenwurm zu lichten Höhen emporzusteigen?« neckte auch der Bruder.
»Es war Fräulein Annemarie in der Tat beim Aufstieg nit gut zumute, wir wollen sie halt in Ruh’ lassen«, wehrte Rudolf die Neckereien ab, während Annemarie mit blassen Lippen zu lächeln versuchte. »Hier oben wird ihr bald besser werden.«
»Das kommt davon, wenn Frauenzimmer alles mitmachen müssen«, knurrte Hans, warf aber doch besorgte Blicke auf die entfärbte Schwester.
Teilnahmlos bohrte Doktors Nesthäkchen mit den Blicken ein Loch in den Himmel, der noch ebenso weit entfernt schien wie von unten.
Sie wagte es nicht, hinab in die Tiefe zu schauen. Es war ihr ganz gleichgültig, ob die Berge, die man hier oben sah, die Alpen waren oder der Berliner Kreuzberg. Der einzige Gedanke, der sie beherrschte, war: »Wär’ ich doch bloß erst wieder unten!«
»Annemarie, willst du denn nicht einmal Umschau halten? Es ist ja ein überwältigendes Panorama«, redete Hans ihr zu.
»Dazu bischt halt auf den Ulmer Münschter g’stiege, um nix nit zu sehe? Wenn das kein Schwabestreich nit ist, dann weiß i nit«, lachte die Viehmuse sie aus.
Ja, der konnte lachen. Wäre sie doch nur unten bei den Freundinnen geblieben!
Hans schaute durchs Fernglas.
»Annemie«, rief er plötzlich lebhaft, »ich glaube, da unten am Münsterplatz gehen in höchsteigener Person unsere alten Herrschaften.«
»Wo–o?« Plötzlich kam wieder Leben in Doktors Nesthäkchen. Das Blut kehrte in ihr entfärbtes Gesicht zurück. »Wo, Hans?« Sie griff nach dem Fernglas. Mit einemmal konnte Annemie jetzt in die Tiefe sehen.
»Ja – tatsächlich – das sind sie – Mutti – Muz –.«
Annemarie schrie es hinab.
»Dreht sich’s Mutterle schon um, Neschthäkche?« neckte die Viehmuse. »Guete Lunge muscht halt habe, wenn’s vom Ulmer Münster bis auf den Platz ‘nunterschreie kannscht.«
Annemarie hörte gar nicht, was er sagte. »Kommt runter, schnell, schnell!«
»Immer mit de Ruhe!« dämpfte Hans die aufgeregte Schwester. »Erst wollen wir mal sehen, wohin Doktor Brauns ihre Schritte lenken werden.« Er beobachtete durchs Fernglas. »Aha – ins Münster-Café – schönchen, da erwischen wir sie.«
Man machte sich daran, die Himmelsleiter wieder hinabzuklimmen. Annemarie wußte nichts mehr von irgendeiner Schwindelanwandlung, nichts davon, daß sie sich vor dem Abstieg gefürchtet hatte. Die bevorstehende Wiedersehensfreude drängte jede andere Empfindung in den Hintergrund. Hans und Rudolf hatten sie nur immer zurückzuhalten, daß sie nicht in allzu beschleunigtem Tempo die Stufen in die Tiefe hinabsauste.
Endlich war man aus dem Wolkenreich wieder auf der Erde gelandet. Endlich konnte Annemarie ins Münster-Café hineinstürmen. Was fragte Doktors Nesthäkchen danach, daß es die Blicke aller Umsitzenden auf sich zog. Daß es entschieden ein etwas merkwürdiger Anblick ist, wenn eine junge Dame sich plötzlich in einem öffentlichen Lokal jubelnd an den Hals eines Herrn wirft. Daß man auch Damen im allgemeinen dort nicht mit dem Jubelruf »Muzi, meine geliebte Muzi!« und einem Dutzend Küsse zu begrüßen pflegt. Annemarie fühlte sich durchaus nicht mehr als junge Dame. Sie war wieder das kleine Nesthäkchen, das mit strahlendem Gesicht zwischen Vater und Mutter saß und sich den Apfelkuchen schmecken ließ.
Ach, nun war alles wieder gut – alles! Mutti hielt die Hand ihrer Lotte in der ihrigen, und Vater nannte sie scherzend schon heute seine »Assistentin«. Da konnte es doch gar nicht so schwer sein, auf ein anderes neues Glück zu verzichten. Besonders da Rudolf Hartenstein nach der Aussprache, vor der sie so gebangt, eine ungezwungene freundschaftliche Art ihr gegenüber zeigte und auch ihr dadurch ihre frühere Unbefangenheit zurückgab.
Ein gemeinsamer froher Abend an der blauen Donau beschloß die schwäbische Wanderfahrt. Doktors Nesthäkchen bildete wieder einmal den Mittelpunkt der Witze und Neckereien. Daß es den Ulmer Münster bestiegen hatte, um nichts weiter von dort oben zu sehen als die Eltern, gab als letzten Schwabenstreich endlosen Stoff zur Heiterkeit. Aber auch an anderm »Stoff« fehlte es nicht. Dr. Braun feierte das Zusammensein mit den Freunden seines Nesthäkchens durch eine unverwässerte Pfirsichbowle, welche die fidele Viehmuse noch fideler machte und Neumanns melancholische Karpfenaugen noch melancholischer.
Am nächsten Morgen trennte man sich nach allen Richtungen hin. Doktors Nesthäkchen zog mit den Eltern und dem Bruder in Gesellschaft des Hartensteinschen Geschwisterpaares sonnigen Ferientagen in dem alten Klosterstädtchen Blaubeuren entgegen.
12. Kapitel
Im wunderschönen Monat Mai
Ja, goldene Tage voll Sonnenglanz, Waldesduft und Tannenrauschen waren es gewesen, dort zwischen dem Felsengezack an der leisplätschernden Blau. Wenn Doktors Nesthäkchen an jene Zeit zurückdenkt, dann hat es die Erinnerung wie an ein schönes Märchen, das man in längst entschwundenen Kindertagen einmal geträumt. Unwirklich schön war es gewesen an dem märchenhaften Blautopf, jenem leuchtendblauen Waldsee, der wie ein kostbarer Saphir, von uralten, moosbärtigen Buchenriesen bewacht, in tiefster Waldeseinsamkeit verborgen liegt. Die Mühle singt ihr eintöniges Lied, und das alte Kloster spiegelt sich in der sagenumsponnenen, geheimnisvollen Tiefe. Hier hatte Rudolf Hartenstein ihnen Mörikes »Hutzelmännchen«, die am Blautopf spielen, vorgelesen.
Wie lange war das her! Sonnentage entschwinden – Menschen gehen auseinander. Regengraue Herbsttage brachten einförmig graue Arbeit. Nur unterbrochen von fröhlich geselligem Beisammensein mit den Freunden; von anregenden Plauderabenden bei Professor Bergholz; von den Briefen der Lieben. Manchmal, nicht allzu oft, brachte der Postbote einen Brief größeren Formats an Fräulein Annemarie Braun, der nach Lysol duftete und Krankenhaus Westend als Aufdruck zeigte. Der wurde etwas hastiger geöffnet als die übrigen und stets mit einer ganz kleinen Enttäuschung, welche die Leserin nicht einmal sich selbst zugestand, beiseitegelegt, wieder vorgeholt und wieder gelesen. Bis sie fast jedes Wort auswendig konnte.
Lieb СКАЧАТЬ