Else Ury: Die beliebtesten Kinderbücher, Romane, Erzählungen & Märchen (110 Titel in einem Band). Else Ury
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Читать онлайн книгу Else Ury: Die beliebtesten Kinderbücher, Romane, Erzählungen & Märchen (110 Titel in einem Band) - Else Ury страница 268

СКАЧАТЬ Stromes ist württembergisch, Neu-Ulm am jenseitigen Ufer bayerisch.

      »Hie gut Württemberg allezeit!« Der Wahlspruch des Herzogs Ulrich galt auch für den Schwäbischen Wanderbund. Die malerische alte Stadt fesselte sie mehr als die vornehm stolzen Neubauten am bayerischen Ufer. Ilse schwelgte wieder in Giebelzacken und Renaissanceerkern, in rieselnden Brünnle und krummwinkligen Gäßle. Das Überwältigendste aber blieb doch der Münster, dieses Denkmal vollendeter Hochgotik.

      Sie standen und schauten und glaubten, in den Himmel hineinzufliegen. Selbst der Viehmuse ging die Sprache vor andächtigem Staunen aus. Und das wollte schon viel heißen.

      Das Bauratstöchterlein machte die andern auf die künstlerische feine Durchbruchsskulptur des in die Wolken ragenden Turmes aufmerksam. Als es dann aber hieß, den Turm zu besteigen, wurde Ilse recht kleinlaut.

      Marlene, die gute Cousine, wollte Ilse keinesfalls allein lassen. Es schien auch ihr ein etwas zu kühnes Wagnis, bis in den Himmel hineinzuklettern. »Wir hören lieber das Kirchenkonzert, das um zwölf Uhr im Münster stattfinden soll.«

      »Das lockt mich halt auch mehr«, schloß sich Ola, die sehr musikalisch war, den beiden an.

      »Also schön, die Damen bleiben unten.« Hans war einverstanden.

      »Nee, durchaus nicht, ich bin auch eine Dame«, meldete sich Nesthäkchen. »Ich denk’ ja gar nicht dran, unten zu bleiben. Auf die Besteigung des Münsters habe ich mich am allermeisten gefreut. Und heute ist gerade ein herrlich klarer Tag.«

      »Mir wär’s lieber, Annemie, du bliebst bei den andern Damen, ich habe jetzt reichlich genug von deinen Schwabenstreichen«, meinte Hans bedenklich. »Wenn du vom Münsterturm heruntersegelst, kannst du deine Knochen im Schnupftuch nach Hause tragen.«

      »Ich verspreche dir feierlich, Hänschen, mir nicht das Genick zu brechen«, beteuerte Annemarie.

      »Ich übernehm’ Bürgschaft«, assistierte Rudolf.

      »Solle mer halt auch liaber drunte bleibe und ‘s Neschthäkche auffange, wenn’s ang’floge kommt?« erkundigte sich die Viehmuse, ehe man die Turmkarten löste, vorsorglich.

      Ein freundschaftlicher Rippenstoß schloß ihm den spöttischen Mund.

      Die Schwaben voran, Annemarie in der Mitte zwischen Hans und Rudolf – damit man ganz sicher ging, daß sie keine Dummheiten machte –, so setzten sich die Hochtouristen in Bewegung.

      »Nimmer ‘nunterschauen, immer gerad’ aus!« riet Rudolf.

      Es ging wunderschön. Die leichtfüßige Annemarie kletterte wie eine Gemse. Sie merkte es gar nicht, daß sie bereits dreihundert Stufen gestiegen waren. Weiter – immer weiter! Der Turm wurde enger. Die Wendeltreppe zog sich wie ein Korkenzieher in endlose Höhe. Durch die durchbrochenen Turmwände sah man rote Ziegeldächer, schwarze Schornsteine, Giebelspitzen tiefer und tiefer zur Erde zurückkriechen. Weiter, immer weiter, – war man denn noch nicht im Himmel?

      Annemaries Schritt wurde langsamer. Sie hatte Herzklopfen. Die beiden Schwaben und Hans kletterten unentwegt weiter.

      »Bist müd’, Herzle?« Mit liebevoller Sorge empfand es Rudolf, daß Annemarie unfrisch wurde. »Wollen wir nit umkehren?«

      »Nein – nein – nur einen Augenblick verschnaufen und –« sie verstummte. Er hatte sie schon wieder geduzt. Schon wieder gebrauchte er den Kosenamen, der so lieb klang, und den sie sich doch nicht gefallen lassen durfte. Überhaupt, jetzt war es die beste Gelegenheit, ihm zu sagen, was doch nun mal gesagt werden mußte. Hier oben hörte sie kein Mensch. Wer weiß, wann sie ihn wieder mal allein sprechen konnte. Klar sollte es zwischen ihnen sein, noch bevor die Eltern kamen.

      »Herr Doktor –«, begann sie energisch.

      »Jawohl, Fräulein Braun«, gab er scherzhaft zurück.

      »Ich möchte Sie bitten, die Begebenheit in der Nebelhöhle zu vergessen.« Sie fühlte, daß sie rot wurde.

      »Ihr Wunsch ist mir Befehl – nur glaub’ ich halt, das wird nit gut möglich sein.« Er lächelte noch immer belustigt.

      »Doch – es muß möglich sein!« Annemarie starrte unentwegt auf ein steinernes, lindwurmartiges Ungeheuer, das aus dem durchbrochenen Turmdach als Träger in die Lüfte hinausfletschte. »Unsere Wege müssen sich unbedingt trennen.«

      Rudolf wurde ernst. Sie sah so blaß aus, ihre Stimme klang gezwungen, es war augenscheinlich, daß sie seelisch litt.

      »Und warum, Annemarie?«

      »Weil – mein Vater hat mir nur die Erlaubnis zum Studium gegeben, damit ich später mal seine Assistentin werde. Ich darf ihn nicht enttäuschen.«

      »Aber mich darfst enttäuschen, gelt? Ich bin dir halt gar nix. Für eine Assistentin läßt sich Ersatz schaffen, für zerstörtes Lebensglück nimmer!« So erregt hatte sie Rudolf Hartenstein noch nicht gesehen.

      »Ihre Schwester Ola sehnt sich nach dem Heim, das Sie schon als Kind versprochen haben, ihr zu schaffen«, erinnerte Annemarie leise.

      »Da kenn’ ich die Ola besser. Nie würde sie meinem Glück im Wege stehen. Was der Bub dahergeredet, kann der Mann nit unter allen Umständen erfüllen.«

      Sie schwiegen alle beide. O Gott, wie das steinerne Ungetüm, auf das sie starrte, sie anfletschte. Als ob es sie mit Haut und Haar verschlingen wollte.

      »Wenn ich mich nun aus Verzweiflung hier vom Turm ‘nunterstürz’?« Er hatte seinen Humor wiedergefunden.

      »Das werden Sie nicht tun.« Annemarie griff entsetzt nach seinem Jackenzipfel.

      »Also schön«, hörte sie Rudolf wieder ganz ruhig sagen. »Dann sollen’s halt Ihren Willen haben. Ich werd’ die Nebelhöhle vergessen, bis – ja, bis Sie selbst mich halt wieder daran erinnern werden.« Es zuckte schon wieder lustig um seine Augen.

      »Das wird nie geschehen – niemals!« unterbrach sie ihn mit aller Lebhaftigkeit.

      »Warten wir’s halt ab. Und nun, gnäd’ges Fräulein, wenn Sie genug ausgeruht sind, denk’ ich, wir setzen unsere Montblancbesteigung halt fort.« Er schlug einen fremdverbindlichen Ton an.

      Annemarie zögerte noch, als könne sie sich nicht von dem Anblick des steinernen Lindwurms trennen.

      »›Gnädiges Fräulein‹ ist nicht gerade nötig«, belehrte sie ihn. »Wenn Sie ›Fräulein Annemarie‹ sagen, das genügt.«

      »Ich dank’ Ihnen für dieses Zugeständnis.« Er machte eine steife Verbeugung.

      »Herr Doktor – noch eins – bitte, seien Sie mir nicht böse«, bat sie mit rührend kindlichen Augen. »Ich leide doch gerade so darunter wie Sie!« Ganz leise kam das letzte hinterdrein.

      »Dummes, liebes Mädle!« Sanft strich er ihr über das Blondhaar.

      »Neschthäkche – liegscht schon unte?« Irgendwoher, aus den Wolken herab klang’s.

      »Wir kommen«, gab Annemarie mit lauter Stimme zurück.

      Sie setzten sich wieder in Bewegung.

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