Название: Reboot
Автор: Robert Jacobi
Издательство: Bookwire
Жанр: Изобразительное искусство, фотография
isbn: 9783867746847
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Warum brauchen wir diesen neuen Code? Es ist naheliegend, dass wir nur mit modernster Technologie unseren Energiebedarf so sichern und steuern können, dass der Klimawandel aufzuhalten ist. Kriege werden zunehmend im digitalen Raum geführt, unsichtbar und doch ebenso bedrohlich. Terroristen planen ihre Vorhaben auf digitalen Kanälen. Die Ausbreitung von Krankheitserregern lässt sich schneller entdecken, und die Entwicklung von Impfstoffen beschleunigen Superrechner ebenfalls.
Krisenprävention erscheint als logischer Anwendungsfall für einen neuen Code. Aber der Bedarf ist umfassender. Wir brauchen ihn in mehr als technischer Hinsicht, nämlich, um unsere demokratische Gesellschaft zu bewahren, die den meisten von uns große Freiheiten und Vorteile gibt. Wir haben uns so an sie gewöhnt wie an die mal bessere, mal schlechtere Luft zum Atmen. Und doch sehen wir, wie schnell sie bedroht sein kann: Fast jeder zweite Mensch der Erde lebt heute in einem autokratischen Regime.28 Die Zahl ist in den letzten Jahren deutlich gestiegen. Wir selbst erleben gerade, wie eine Krise Populisten und Extremisten eine Chance gibt, sich hörbar zu machen und Anhänger zu gewinnen.
Irgendwann läuft auch eine gefestigte, demokratische Gesellschaft Gefahr, zu kippen, erst recht, wenn ihr Betriebssystem fehleranfällig geworden ist oder die Menschen es nicht mehr verstehen. Auch ein schleichender Verlust von Meinungsfreiheit und Lebensqualität macht sich erst dann schmerzhaft bemerkbar, wenn es fast schon zu spät ist, wie die Menschen in der Türkei, Ungarn oder Brasilien bestätigen können.
Wir haben uns daran gewöhnt, bei jedem Einkauf eine Gesichtsmaske zu tragen, auch ist zu verschmerzen, eine Saison lang auf Fernreisen, Stadionbesuche und Partynächte zu verzichten. So manche Hetzerei von rechten Politikern oder Verschwörungstheoretikern schockiert uns schon nicht mehr so wie noch vor einigen Jahren. Aber die Anpassungsfähigkeit birgt Risiken. Wenn ein Drittel aller Deutschen daran glaubt, dass geheime Mächte die Welt steuern, dann ist das mehr als beunruhigend. Verschwörungsnarrative werden zur Ersatzreligion für Menschen, die sich einsam oder nicht gehört fühlen – und andocken an antidemokratische Weltanschauungssysteme.29
Statt fassungslos darauf zu schauen, wie eine Schar Radikaler versucht, den Reichstag zu stürmen, sollten wir daran arbeiten, unser Parlament zu erneuern. Die beiden Polizisten, die den Eingang verteidigten, haben symbolisch die Arbeit von uns allen verrichtet. Nur zwei sind zu wenig. Der Bundestag ist ein Beispiel dafür, wie dringend wir unsere Institutionen modernisieren sollten: Das Wahlrecht ist zu einer Wissenschaft geworden, und wieder haben es die Abgeordneten in der laufenden Legislaturperiode nicht geschafft, das enorme Wachstum ihres Hauses zu begrenzen. Warum brauchen wir 700 Abgeordnete oder mehr, im nächsten Bundestag vielleicht 800, und jeder von ihnen mit eigenen Stäben?
Nach China haben wir inzwischen das zweitgrößte Parlament der Welt. Ein Kuriosum, das denen, die unser System beschädigen oder missbrauchen wollen, leichtes Spiel macht. Nichts ist leichter als Zustimmung für die Forderung nach einer Verkleinerung des Parlaments zu finden und daran gleich eine ganze Serie anderer Forderungen zu knüpfen, die nur dem Zweck dienen, zu destabilisieren und Wähler in populistische Randgruppierungen zu treiben. Und doch verpassen es die Abgeordneten ein ums andere Mal, sich selbst zu reformieren und so das Parlament zu stärken.
Wir brauchen einen neuen Code, und die gute Nachricht ist, dass wir ihn mit vorhandenen Mitteln erstellen könnten. Dieser Code würde Probleme in Lösungen übersetzen, mithilfe menschlicher Vernunft, aber auch mithilfe digitaler Technologie. Es muss eine Ausnahme bleiben, dass Entscheidungen darüber, ob Schulen geschlossen und Ausgangsbeschränkungen verhängt werden, in Kabinettsrunden oder Telefonkonferenzen der Kanzlerin mit den Ministerpräsidenten getroffen werden, ohne dass die Datengrundlage dafür transparent einsehbar ist.
Es war Politik zum Zuschauen, aus dem Moment geboren, und gestützt auf Wissenschaftler, die zwar ihr Feld, aber nicht die ganze Gesellschaft analytisch betrachten. Die Wahrscheinlichkeit ist hoch, dass die Einschränkungen geringer oder zeitlich kürzer hätten ausfallen können, wenn die Regierungen in Bund und Ländern und auch in anderen Staaten deutlich früher reagiert hätten. Das galt im Herbst immer noch.
Die Reaktion auf die Krise wirkte nicht nur deshalb chaotisch, weil jedes Bundesland seinen eigenen Weg gehen wollte. Nein, die Aussagen lesen sich rückwirkend so, als habe es all die oben genannten Warnungen, Planspiele und Notfallmechanismen nie gegeben. Das Virus war kein unbekannter Feind. Dass Gesundheitsminister Jens Spahn noch im Januar den SARS-CoV-2-Erreger als »nicht schlimmer als eine gewöhnliche Grippe« bezeichnet hatte, würde er aus heutiger Sicht wohl gerne vergessen machen.
Waren das aber nicht einfach nur Anfangsfehler? Sind wir in Deutschland nicht sogar vergleichsweise gut durch die erste Welle der Pandemie gekommen? Im internationalen Vergleich ja, aber dennoch mit Schaden nicht nur an unserer Gesundheit, sondern auch an unserem Gemeinwesen. Genau weil viele Maßnahmen verspätet kamen und willkürlich wirkten, manchmal überzogen schienen, manchmal zu lasch, konnte sich neben dem Corona-Virus auch das lange schon schwelende Lügen- und Verzerrungsvirus rasant verbreiten.
Der neue Code sollte eine Antwort auf die Kurzfristigkeit sein, mit der wir immer wieder versuchen, langfristige Probleme zu lösen. Es geht darum, vorzubeugen gegen den dumpfen Populismus jener, die gerne mehr Macht hätten, gegen die Behäbigkeit unserer Zivilgesellschaft im Umgang mit moderner Technologie, die sie im Gegenteil geschickter einzusetzen lernen muss, um mit ihren Gegnern mithalten zu können.
Der neue Code sollte Wirtschaft und Gesellschaft insgesamt widerstandsfähiger machen, vor allem aber auch, ins Positive gerichtet, das Leben möglichst vieler Menschen so lebenswert wie möglich machen, und das dauerhaft. Wie könnte das gelingen? Wie sieht dieser neue Code aus? Dazu wird in den folgenden Kapiteln ein Vorschlag entwickelt und zur Diskussion gestellt.
19 Dong, E.; Du, H.; Gardner, L. (2020). An interactive web-based dashboard to track COVID-19 in real time. Lancet Infectious Diseases 20(5), S. 533–534. Abgerufen 15.11.2020, von https://doi.org/10.1016/S1473-3099(20)30120-1.
20 Taleb, N. N.; Spitznagel, M. (2020, März 27). Kein schwarzer Schwan: Nassim Taleb über die Corona-Pandemie. Neue Zürcher Zeitung. Abgerufen 19.10.2020, von https://www.nzz.ch/feuilleton/kein-schwarzer-schwan-nassim-taleb-ueber-die-corona-pandemie-ld.1548877?reduced=true
21 Rosling, H.; Rönnlund, A. R.; Rosling, O. (2020). Factfulness: Ten Reasons We’re Wrong About the World – and Why Things Are Better Than You Think (Reprint). New York: Flatiron Books.
22 The Bush School of Government and Public Service – Texas A&M University. (2020). Pandemic & Biosecurity Policy Program – Bush School of Government & Public Service. Abgerufen 19.10.2020, von https://bush.tamu.edu/scowcroft/programs/
23 National Cable Satellite Corporation. (2020). Presidential Historians Survey 2017. Abgerufen 19.10.2020, von https://www.c-span.org/presidentsurvey2017/?page=overall
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