Im Schatten der Vergeltung. Rebecca Michéle
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Название: Im Schatten der Vergeltung

Автор: Rebecca Michéle

Издательство: Bookwire

Жанр: Языкознание

Серия:

isbn: 9783943121605

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СКАЧАТЬ diesen Bedingungen blieb Maureen nichts anderes übrig, als in der Zurückgezogenheit ihres Zimmers Bücher und Zeitungen zu studieren, die in den Augen der Gesellschaft den Männern vorbehalten waren.

      Am Tag des Gartenfestes auf Linnley Park zeigte sich tatsächlich keine einzige Wolke am blauen Himmel. Das Meer lag ruhig in der Bucht, die Trenance Cove den Namen gegeben hatte, und die Luft war mild, aber nicht zu warm. Heute würde man angenehm unter freiem Himmel essen und trinken können.

      Philipp wartete ungeduldig neben dem offenen Kutschenschlag. Soeben war Frederica zum zweiten Mal ins Haus zurückgelaufen, weil sie etwas vergessen hatte.

      »Wie eine aufgescheuchte Hummel.« Maureen sah lächelnd ihrer Tochter nach. »Ich sehe nach, was sie jetzt noch braucht.« Maureen freute sich auf den Tag, ihre trüben Gedanken waren verflogen. Bei einem solch herrlichen Wetter musste man einfach guter Stimmung sein. Am Fuß der Treppe kam ihr Frederica auch schon wieder entgegen. Ihre Augen strahlten in erwartungsvoller Vorfreude, ihre runden, aber nicht zu dicken Wangen leuchteten rosig.

      »Ich hatte meinen Sonnenschirm vergessen«, rief sie und schwenkte ihr Sonnenschirmchen so hektisch, dass sie Maureen beinahe den Hut vom Kopf gestoßen hätte. Diese nahm es mit Humor und wich geschickt zu Seite, dann musterte sie Frederica jedoch kritisch.

      »Und dein Schultertuch ebenfalls.«

      »Wie?«

      »Du hast kein Schultertuch um, Frederica.« Maureen versuchte, streng zu klingen, obwohl sie Mühe hatte, ein nachsichtiges Lächeln zu unterdrücken. Sie konnte Frederica in ihrer jugendlichen Unbekümmertheit einfach nicht ernsthaft böse sein. »Dein Kleid ist zu weit ausgeschnitten, um es ohne Tuch zu tragen.«

      »Aber Mama, für ein Tuch ist es doch viel zu warm.«

      Maureen blieb jedoch unnachgiebig.

      »Entweder ziehst du ein Kleid an, das dein Dekolleté in schicklicher Weise bedeckt, oder du holst jetzt sofort ein Tuch! Und beeil dich, dein Vater ist kurz davor, die Geduld zu verlieren, wir dürfen nicht zu spät kommen.«

      Fredericas Stirn runzelte sich unwillig, sie murmelte etwas, das Maureen nicht verstehen konnte, ging aber wieder die Treppe in ihr Zimmer hinauf. Sie wusste, dass sie dem Wunsch ihrer Mutter folgen musste, auch wenn durch ein Schultertuch die Wirkung ihres blauen Kleides, das genau die Farbe ihrer Augen widerspiegelte, gründlich verdorben werden würde. Dabei wollte, nein, musste sie heute so verführerisch aussehen, dass George Linnley gar nicht anders konnte, als den ganzen Tag an ihrer Seite zu sein. Nun, sie würde sich das dumme Tuch zunächst einmal umlegen. Die Eltern beobachteten sie gewiss nicht andauernd, und es würde sich schon eine Gelegenheit ergeben, ihre wohlgeformte Figur George Linnley in all ihrer Schönheit zu präsentieren.

      Ungeduldig schritt Maureen in der Eingangshalle auf und ab. Philipp missfiel Unpünktlichkeit. Selbst seiner geliebten Tochter gegenüber zeigte er sich in diesem Punkt wenig nachsichtig und sagte ihr unablässig, dass Pünktlichkeit zu den wichtigsten Tugenden gehörte, denn damit zollte man dem Wartenden Respekt. Leider waren seine Bemühungen von wenig Erfolg gekrönt. Frederica träumte und lebte gern in den Tag hinein und vergaß darüber oft ihre Pflichten.

      Lautlos betrat Jenkins die Halle und sprach Maureen an: »Der Reiter brachte soeben die Post, Mylady. Soll ich die Briefe nach draußen zu Mylord bringen?«

      »Nein, Jenkins, mein Mann hat jetzt keine Zeit, sich mit geschäftlichen Angelegenheiten zu befassen. Er wird die Post heute Abend durchsehen.«

      Jenkins verbeugte sich und legte die Post auf eine zierliche Kommode unter einem Spiegel.

      »Frederica! Kommst du endlich?«, rief Maureen nach oben, ohne eine Antwort zu erhalten. Im Spiegel erhaschte sie einen Blick auf ihre Gestalt und lächelte ihrem Spiegelbild zu. Sie zupfte ein paar Locken zurecht, die unter dem cremefarbenen Hut hervorlugten. Die grünen Bänder passten perfekt zu ihren Augen. Nein, wie dreiunddreißig sehe ich nicht aus, stellte Maureen befriedigt fest. In den Augenwinkeln zeigte sich noch kein Fältchen, und ihre Figur war immer noch schlank und an den richtigen Stellen gerundet. Um sich die Wartezeit, bis Frederica endlich wieder herunterkam, zu vertreiben, blätterte sie ohne großes Interesse die Post durch. Plötzlich blieb ihr Blick blieb an einem schlichten weißen Kuvert hängen. Sie schnappte nach Luft, und es war, als hätte ihr jemand eine Faust in den Magen gerammt.

      Maureen Trenance, Trenance Cove, Cornwall, England stand in gerader, schnörkelloser Schrift auf dem Umschlag. Maureen schien es, als stünde sie plötzlich neben sich, als hätte sich ihre Seele von ihrem Körper gelöst und sie beobachtete sich selbst, wie ihre Hand den Brief umklammerte. Vor ihren Augen wurden die Buchstaben immer größer, brannten sich in ihren Kopf wie glühendes Eisen, bis Maureen nichts anderes um sich herum mehr wahrnahm als diesen Brief. Sie kannte diese Schrift, hatte sie oft genug gesehen, auch wenn viele Jahre seit dem letzten Mal vergangen waren. Wie eine Marionette stieg sie die Treppe hinauf, den Umschlag in ihren verkrampften Fingern. Auf dem ersten Absatz begegnete sie Frederica, die Schultern nun unter einem Tuch sittsam verborgen, aber Maureen bemerkte es nicht. Mit starrem Blick ging sie einfach an ihrer Tochter vorbei.

      »Mama?« Frederica erschrak über den sonderbaren Ausdruck in Maureens Augen. In einer solchen Verfassung hatte sie ihre Mutter nie zuvor gesehen. »Fühlst du dich nicht wohl?«

      Maureen antwortete nicht. In ihrem Kopf hämmerte nur ein einziger Gedanke: Warum jetzt? Warum heute?

      Erst, als sie ihre Zimmertür hinter sich geschlossen hatte, war sie in der Lage, mit zitternden Fingern den Umschlag umzudrehen und einen Blick auf den Absender zu werfen, diese Bestätigung hätte es aber nicht mehr gebraucht, um zu wissen, wer ihr geschrieben hatte. Es wunderte sie nur, dass der Brief in Edinburgh aufgegeben worden war.

      »Mach ihn auf!«, flüsterte eine Stimme in ihrem Kopf. Langsam wurde sie ruhiger, ihre Hände zitterten weniger. Gleichzeitig jagte ein Schauer nach dem anderen über ihren Rücken.

      »Nein!«, rief eine andere, lautere Stimme. »Nicht nach all den Jahren! Wirf ihn ins Feuer!«

      Der warme Sommertag, an dem die Sonne durchs Fenster schien und helle Kringel auf dem kostbaren Teppich malte, schien zu verschwinden und Maureen wurde in die Vergangenheit katapultiert. Die Erinnerungen überwältigten sie und sie sank zu Boden, den Brief immer noch ungeöffnet in den Händen. Sie fühlte sich wie in ein anderes Land in eine andere Zeit versetzt, weit fort von der ländlichen, sommerwarmen Idylle Cornwalls. Es war Winter und, als wäre sie eine stumme Beobachterin, sah sie ein junges Mädchen, das vor Kälte bibberte und versuchte, sich mit einer fadenscheinigen Decke notdürftig zu wärmen. Dieses Mädchen war sie, vor vielen, vielen Jahren. Sie hatte die meiste Zeit des Jahres gefroren, denn selbst die Sommer in Schottland waren kurz und regnerisch. Es war Maureen, als könne sie den groben Stoff der Wolldecke auf ihren Schultern spüren. Durch die Ritzen der Bodenbretter, auf denen sie kauerte, hörte sie das Schnauben der Pferde, roch den unverwechselbaren Duft nach Heu, den sie liebte und der sie seit ihrer Geburt umgab. Roslach wieherte leise und stampfte mit ihren kleinen Hufen. Maureen liebte die Fuchsstute. Sie hatte mithelfen dürfen, als Roslach geboren wurde und hatte das junge Pferd geduldig und mit viel Geschick zugeritten. Nun würde die Stute jedoch verkauft werden. Die Vorstellung, sich von Roslach zu trennen, schmerzte Maureen, sie konnte jedoch nichts daran ändern. Das Pferd gehörte dem Laird, der damit machen konnte, was er wollte. Maureens winzige Kammer über den Stallungen war nicht mehr als ein Bretterverschlag, wie auch der danebenliegende Raum, in dem ihre Eltern ihr Lager hatten. Jetzt im Winter, wenn die Landschaft tief verschneit und die Bäche gefroren waren, hatte das einen großen Vorteil: Die Wärme der Tiere stieg nach oben, und machte die Kälte etwas erträglicher, denn die Kammern verfügten über keine Feuerstellen. СКАЧАТЬ