Die Todesstrafe II. Jacques Derrida
Чтение книги онлайн.

Читать онлайн книгу Die Todesstrafe II - Jacques Derrida страница 7

Название: Die Todesstrafe II

Автор: Jacques Derrida

Издательство: Bookwire

Жанр: Документальная литература

Серия: Passagen forum

isbn: 9783709250396

isbn:

СКАЧАТЬ Was ich davon zurückbehalten möchte, ist nicht nur die unergründliche Schwierigkeit, ein oder gar mehrere Alter zu definieren, nicht nur die Schwäche, um nicht zu sagen die wesentliche Debilität des diesbezüglichen Expertendiskurses, das langsame-Hirn der Experten in Bezug [au sujet du] auf diese angebliche Reife oder Unreife des beurteilten Subjekts [sujet], sondern auch die Verbindung zwischen dieser Frage der Reife im Allgemeinen und der Verantwortung des Rechtssubjekts im Allgemeinen, zum Beispiel die, auf die sich die strengsten Diskurse (wie der von Kant) zugunsten der Einschreibung der Todesstrafe in das Recht beziehen. Was ist ein Alter und von welchem Alter an ist ein Subjekt rechtlich verantwortlich? Was ist das Alter des verantwortlichen Rechtssubjekts? Diese – gewaltige und klassische – Frage, auf die wir jeden Tag erneut stoßen werden28 und die die Frage selbst der Verantwortung dessen ist, was man ein bewusstes Rechtssubjekt vor dem Gesetz nennt, < diese Frage > befindet sich nicht nur durch die Vielzahl mentaler und sozialer Alter in jedem von uns auf schwierigem Kurs, wo sie allen Winden ausgesetzt ist, sondern auch, schlimmer noch, < durch die Existenz29> einer Differenz zwischen dem Alter des sogenannten mentalen oder sozialen usw. Bewusstseins und dem Alter – wenn es denn eines gibt – des Unbewussten. Gibt es eine Geschichte, eine Zeit und ein Alter des Unbewussten? Was würde ein Richter antworten, dem ein Experte sagen würde: „Dieser Angeklagte ist nicht älter und hat nicht mehr Zeit als das Unbewusste, das laut Freud keine Zeit kennt“, oder „Er verfügt über ein unbewusstes Alter von 6 Monaten, und es war dieses Unbewusste eines Neugeborenen, das getötet hat“? Wie auch immer die Antwort auf diese Fragen ausfiele: Gäbe es eine Übersetzung, einen irgendwie gearteten Übergang, eine minimale Homogenität zwischen den Altern des Unbewussten und den Altern des Bewusstseins, um vom Personenstand erst gar nicht zu sprechen? Wenn das Begehren oder die Tat [acte] eines Mörders (und wir müssen die beiden bereits unterscheiden, was nicht immer einfach ist) in Bezug auf eine Logik des Unbewussten immer älter, archaischer oder, was auf dasselbe hinausläuft, jünger, kindlicher, ja babyhafter sind als jene, die der Personenstand ausweist [dont fait état l’état civil], wenn das, was vom unbewussten Alter des Begehrens oder der Tat des Verbrechers gesagt werden kann, auch vom unbewussten Alter des Begehrens oder des Tuns [acte] der Richter oder der Gesellschaft gesagt werden kann, die zum Tode verurteilt und hinrichtet, dann ist diese schwindelerregende Frage des Alters, der Geschwindigkeit, des Geschwindigkeitsdifferentials30, der Differenz zwischen dem Langsamen und dem Schnellen nicht zu trennen von der Frage des Gesetzes und des Rechts im Allgemeinen, der Kriminologie im Besonderen, der Beziehungen zwischen der Geschichte des Strafrechts oder der Kriminologie und der Psychoanalyse. Wir werden einige der rätselhaftesten, der aporetischsten Gegebenheiten davon reaktivieren, indem wir bestimmte Texte von Reik über den Geständniszwang (vgl. Bibliographie31) lesen, sowie einige Texte, von denen ich vorhin schon sprach, die von Reik im Namen von Freud geschrieben und signiert wurden, über die Todesstrafe – und über eine Schuld, die, weit davon entfernt, auf das Verbrechen zu folgen, ihm vorausgeht, und ihm von der archaischsten Bildung des Unbewussten her vorausgeht. Die Sache ist umso komplexer, beunruhigender, verwirrender, schwieriger zu behandeln, als die Vielzahl der Alter, unserer Alter, der heterogenen Alter, die sich unser Leben als Sterbliche teilen, und die es sich simultan teilen (wir haben synchron mehr als ein Alter), diese Dyschronie oder diese wesentliche Anachronie, die uns spaltet, vervielfacht, teilt, die uns, Überreste zurücklassend, verschlingt, die uns in den Tod führt, wobei sie immense Zonen an Jugendlichkeit, ja an embryonalen und noch nicht „geborenen“ Virtualitäten unangetastet lässt [die Sache ist umso komplexer, beunruhigender, verwirrender, als die Vielzahl der Alter, unserer Alter] nicht nur die ontogenetische < Vielzahl > eines Individuums, eines bewussten oder unbewussten Subjekts, ja eines bewussten oder unbewussten Ichs ist, das ist nicht nur die Vielzahl an Altern in jedem Augenblick der psychischen Ökonomie oder des psychischen Systems (das Es, wenn Sie so wollen, das Ich, das Überich, das Ichideal, das Idealich usw., und wir könnten diese Instanzen vervielfachen), das ist auch, in jedem von uns, die irreduzible Vielzahl an Altern der Menschheit, der anthropologischen Kultur, ja der Alter des (menschlichen oder tierlichen) Lebens im Allgemeinen. Nehmen Sie einmal an, ich töte: In welchem Alter werde ich getötet haben, oder werde ich getötet worden sein? In welchem Alter meines Personenstands, oder in welchem archaischen Alter meiner Geschichte, als ich 6 Monate, 2 Jahre alt war, als ich noch nicht lesen und schreiben konnte, oder mit 15 Jahren? Oder mit bereits 100 Jahren? Wer wird wen getötet haben, in welchem Alter? Es gibt da, in unserem Bewusstsein und in unserem Unbewussten, simultan etwas von einem Greis und etwas von einem Kind, aber auch etwas vom Menschen des 20. Jahrhunderts und des 5. Jahrhunderts vor Christus, vom Cromagnon-Menschen und vom Neandertaler, vom Menschenaffen, vom Tiger und vom Eichhörnchen. Wer bist du? Welches Alter hast du32 in dem Moment, in dem du tötest, ja in dem Moment, in dem du getötet wirst, das sind Fragen des Alters, die man dem Angeklagten, dem Verbrecher, aber auch dem Richter und dem Henker stellen kann, ohne jemals eine befriedigende Antwort erwarten zu können, aus Mangel an Wissen, zunächst mangels Wissen darüber, was die Frage sagen will. Diese Alter lassen sich nicht ineinander übersetzen, sie kohabitieren auf tausenderlei Weisen, sie führen gegeneinander Krieg oder machen miteinander Liebe, gemäß einer Geselligkeit [socialité], hinsichtlich derer das Recht der menschlichen Person über keinerlei Vorbild verfügt. Wen be- oder verurteilt33 man? Welches Alter be- oder verurteilt man? Wo sind die Experten für die Evaluierung dieser „mentalen“ oder „sozialen“ Alter, die nicht einmal mehr Alter der Menschheit sind?

      Um noch an der Oberfläche dieser „Frage des Alters“ zu bleiben, erinnere ich mit einigen Worten kurz an zwei andere exemplarische Dimensionen.

      1. Einerseits an die der Abtreibung und des Rechts, das Leben eines Embryos durch eine berechenbare Entscheidung abzubrechen. Unter welchen Bedingungen, zu welchen Bedingungen, wie viele Wochen lang muss man einen Embryo für eine menschliche Person halten, für ein virtuelles Rechtssubjekt, dessen Leben respektiert werden muss, usw.? Wie Sie wissen, hat man gerade das Recht auf Schwangerschaftsabbruch von zehn auf zwölf Wochen verlängert34; man hat ebenfalls beschlossen – ein weiteres Problem in Bezug auf den Embryo –, genetische Forschungen und Versuche an solchen Embryonen zu erlauben, die von ihren virtuellen Eltern aufgegeben (also dem Tod preisgegeben) wurden, wobei diese Erlaubnis so weit wie möglich geht, außer dem sogenannten reproduktiven Klonen (Forschungen und Versuche, ohne die Grenze des sogenannten reproduktiven Klonens zu erreichen oder zu überschreiten, könnte man also weiterhin durchführen), so als ob irgendjemand, insbesondere irgendein Ethikausschuss diesbezüglich jemals in der Lage gewesen wäre, auch nur den geringsten Embryo von einem Begriff zu produzieren, der dieses Namens würdig wäre, einschließlich eines Begriffs des Klonens, vom Begriff des Re-produktiven ganz zu schweigen...

      Sie wissen, dass die Antworten auf diese Batterie von Fragen von einer Nation zur anderen, von einer Stätte der Wissenschaft zur anderen sehr verschieden ausfallen, überaus beweglich sind und nie, absolut nie auch nur im Geringsten auf einem strikten, im strengen Sinne strikten Begriff oder Prinzip gründen, welche Partei man auch ergreift, ob man nun dafür oder dagegen ist; was die wesentliche Fragilität des geläufigen Begriffs der „Person“, der „juridischen Person“ und des Rechtssubjekts deutlich vor Augen führt. Sie wissen ebenfalls, dass die – zumindest rhetorische – Bezugnahme auf den Mord und die Todesstrafe im Zentrum der Argumentationsweisen gegen die Abtreibung steht, die bestimmte Leute für ein Verbrechen oder eine Hinrichtung, ja sogar einen Massenmord halten, demographisch gesehen vom Ausmaß der schlimmsten Verbrechen gegen die Menschheit35 in diesem Jahrhundert, wobei eine zusätzliche und höchst bezeichnende soziologische Bizarrerie damit zusammenhängt, dass die militantesten Gegner der Abtreibung meistens (nicht immer, aber meistens, insbesondere in den Vereinigten Staaten) Anhänger der Todesstrafe sind.

      In seinem jüngsten Buch, L’Abolition („Die Abschaffung < der Todesstrafe >“)36, im Kapitel mit der Überschrift „Von einem Präsidenten zum anderen“, auf das wir unter einem anderen Gesichtspunkt noch einmal zurückkommen werden, wenn wir die Frage des Präsidenten ansprechen (Was ist ein Präsident? Worin besteht die Figur des Präsidenten in dieser Geschichte der Todesstrafe?), ruft Robert Badinter jenen Moment zu Beginn der Präsidentschaft von Giscard d’Estaing in Erinnerung, СКАЧАТЬ