Die Todesstrafe II. Jacques Derrida
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Название: Die Todesstrafe II

Автор: Jacques Derrida

Издательство: Bookwire

Жанр: Документальная литература

Серия: Passagen forum

isbn: 9783709250396

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СКАЧАТЬ die während der Offensive an der Front des Ersten Weltkriegs nicht genug vorrückten; ihnen drohte nämlich, erschossen zu werden – und einige wurden es auch –, wenn eine Schwadron ihrer eigenen Armee im gewünschten Rhythmus vorrückte. Der andere Dokumentarfilm betraf die Kriegsdienstverweigerer während des Algerienkriegs und in Israel.59 Ohne selbst zum Tode verurteilt worden zu sein, wurden sie oft für Feinde gehalten, vor allem aber legten sie Zeugnis ab für schreckliche Kriegsverbrechen (Folter und Gefangenenerschießungen ohne Urteil60), die im Grunde genommen nicht darin bestanden, einen Feind im Kampf zu töten, sondern darin, ihn ohne Urteilsspruch zum Tode zu verurteilen und hinzurichten, während er bereits Gefangener war.

      Es ist nicht sicher, so sagten wir vorhin, dass es da ein Problem der Todesstrafe gibt, ein einziges unter diesem Namen identifizierbares Problem. Dieser Name birgt vielleicht eine nicht zu vereinheitlichende Vielfalt von Begriffen und Fragen. Selbst wenn wir darauf bestehen, die Möglichkeit dieser Vielfalt, ja dieser Dissemination zu respektieren, die hinter der scheinbaren Identität des Problems der Todesstrafe verborgen und irreduzibel ist, so müssen wir gleichwohl einen Identitäts-Effekt, ein Identitäts-Simulakrum anerkennen, ein Simulakrum, das stabilisiert und konsensuell genug ist, damit wir zu wissen glauben, was wir sagen, identifizieren und isolieren, wenn wir uns auf die Todesstrafe beziehen, ein legales Phänomen, das sich vom einfachen Mord unterscheidet, im Prinzip und in der Intention, im Geiste, das sich von der Rache und vom Opfer unterscheidet, das eingeschrieben ist in ein Gesetz, welches von einem Staat angewendet61 wird usw.

      Hier nun ein weiterer Vorstoß, über einen anderen Flügel [aile]. Wir wollen ihn den „präsidentiellen“, den „Präsidentenflügel [présidentiaile]“ nennen.

      Bezüglich der auf diese Weise provisorisch identifizierten Todesstrafe kann man zum Beispiel folgende Fragen stellen, die uns eine gewisse Zeit lang leiten werden: Ist die Abschaffung der Todesstrafe, die seit circa zehn Jahren in der Welt spektakuläre Fortschritte verzeichnet, wir haben letztes Jahr ausführlich darüber gesprochen, ist die Abschaffung der Todesstrafe ein Ereignis in der Geschichte, und in der Geschichte als Geschichte der Menschlichkeit/Menschheit [humanité], wird sie ein solches sein, wird sie ein solches gewesen sein? Markiert dieses Ereignis einen Fortschritt, könnte es einen solchen markieren, wird es einen solchen markiert haben, und was ist dann ein Fortschritt? Ein unumkehrbarer Fortschritt? Und um welchen Preis? Soll diese Abschaffung für historisch (mit der Erfahrung als Geschichte verbunden) gehalten werden oder für die Antwort auf eine gewissermaßen ahistorische Prinzipien-Frage, so dass eine scheinbar historische, empirischhistorische Antwort in ihrer Struktur von einer tiefverwurzelten Ahistorizität des sie leitenden Prinzips geprägt ist? Sie wissen, dass für Kant zum Beispiel, für Kant als Kritiker Beccarias, die Todesstrafe unabhängig von jeglicher Rücksicht auf Nützlichkeit, Exemplarität oder Abschreckung gerechtfertigt werden muss, unabhängig von jeglicher Rücksicht, die dazu tendiert, aus dem Rechtssubjekt oder dem Subjekt der Sittlichkeit, aus der menschlichen Person ein Mittel im Hinblick auf einen Zweck zu machen; und dass der Todesstrafe, in ihrem Wesen und in ihrer Würde, also alle (politische, soziologische, psychologische usw.) Geschichtlichkeit fremd sein müsse. Nun, eben damit werden wir beginnen.

      Was sagt Badinter zu Beginn des ersten Kapitels seines letzten Buches, eines Kapitels, das den Titel „Von einem Präsidenten zum anderen“ trägt und im Laufe dessen er untersucht, was sich bezüglich der Todesstrafe entwickelt, als man von Pompidou zu Giscard und dann zu Mitterand übergeht? Die Frage der Präsidentschaft, als Figur der Souveränität, wird uns auch von den Vereinigten Staaten her interessieren, wo ein endloser Präsidentschaftswahlkampf62 das Thema der Todesstrafe wie die Pest gemieden hat und zwei Kandidaten einander gegenüberstellt, die gleichermaßen Anhänger der Todesstrafe sind, wie es sich gehört und wie es sich noch lange gehören wird in diesem Land, wobei einer der beiden Kandidaten, der Gouverneur von Texas, unter den gnadenlosen Nichtbegnadigenden63, die sich systematisch weigern, irgendeinen zum Tode Verurteilten zu retten, auch als unbestrittener Champion in dieser Kategorie beziehungsweise aller Kategorien bekannt ist.64 Was also sagt Badinter zu Beginn des ersten Kapitels seines letzten Buches, eines Kapitels, das den Titel „Von einem Präsidenten zum anderen“ trägt? Er stellt als randinschriftliches Motto65 einige Worte von Beccaria voran, dessen großer Bewunderer er ist, wie Sie wissen, über den er geschrieben hat, unter anderem das Vorwort zur französischen Übersetzung seines großen Buches. Badinter schreibt sich entschlossen in die große Tradition Beccarias ein, und er markiert das, indem er seinem letzten Buch, einem Buch, das, Partei ergreifend und Zeugnis einer heute mutigen Treue, François Mitterand gewidmet ist, dem Präsidenten der Abschaffung der Todesstrafe, < indem er seinem letzten Buch > also folgenden Satz als Motto einschreibt. Beccaria, zitiert als Motto, sagt Folgendes, dem Badinter allem Anschein nach zustimmt und Beifall zollt:

      Wenn ich jedoch beweisen werde, dass diese Strafe weder nützlich noch notwendig ist, so habe ich für die Sache der Menschheit den Sieg errungen.66

      Nun möchte ich mich mit Ihnen fragen, ob dieser Satz, selbst wenn er aus seinem Kontext gerissen ist, wie ein Motto es immer tut67, und so klar und edel er auch immer erscheinen mag, nicht problematisch ist, selbst für einen überzeugten Befürworter der Abschaffung der Todesstrafe, selbst für eine radikale Bewegung zur Abschaffung der Todesstrafe68. Und indem ich mich das frage, werde ich mir mit Ihnen Fragen stellen zur Tradition und zu den Voraussetzungen des entschlossensten, respektabelsten, am mutigsten kämpfenden Diskurses zugunsten der Abschaffung der Todesstrafe, und also zu dem, was seine Stärke selbst an Schwäche oder Verletzlichkeit in sich bergen kann. (Hier innehalten?69)

      Dieser Satz von Beccaria (dessen großes kleines Buch Über Verbrechen und Strafen ich Sie also zu lesen und wiederzulesen bitte) entstammt einem Kapitel, das den Titel „Über die Todesstrafe“ trägt (Kap. XXVIII). Dieses Kapitel, das ziemlich lang und detailreich ist, eröffnet mit einer Frage, die die Begriffe des Nützlichen und des Gerechten auf problematische Art und Weise zu assoziieren und miteinander zu verknüpfen scheint. Das ist aber nicht dasselbe, das Nützliche und das Gerechte. Beccaria schreibt also, ich zitiere:

      Diese unnütze Häufigkeit der Strafen, die noch nie die Menschen besser gemacht hat, hat mich zur Prüfung der Frage veranlaßt, ob für eine wohleingerichtete Regierung die Todesstrafe wirklich nützlich und gerecht ist. Mit welchem Recht maßen es die Menschen sich an, ihresgleichen zu töten?70

      Gleich nachdem er diese Frage gestellt hat, die in ihrer Formulierung das Gerechte und das Nützliche verbindet (während es doch nicht dasselbe ist, das Gerechte und das Nützliche, und gerade Kant versucht hatte, die Todesstrafe als einen gerechten Akt zu rechtfertigen, der gerade prinzipiell, aus reinem Prinzip gerecht ist, weil er durch keinerlei Eigenschaft der Nützlichkeit, der Exemplarität oder der Abschreckung gerechtfertigt werden muss, während Beccaria seinerseits die Todesstrafe disqualifiziert, diskreditiert, weil sie nicht nützlich oder abschreckend genug sei, wir werden noch darauf zurückkommen) [gleich nachdem er also diese Frage gestellt hat, die in ihrer Formulierung das Gerechte und das Nützliche verbindet,] trennt Beccaria, mit einer ziemlich interessanten und paradoxen Geste, das Recht, zu töten, die Todesstrafe, von der Souveränität der Gesetze. Er tut das, um die Souveränität zu retten, natürlich, und um zu zeigen, dass die Todesstrafe, eben weil sie kein Recht ist, nicht auf der Souveränität und den Gesetzen beruht; man kann sie abschaffen, ohne die Souveränität und die Gesetze zu gefährden; oder umgekehrt, eben weil sie nicht auf der Souveränität und den Gesetzen beruht, ist sie kein Recht: „Mit welchem Recht maßen es die Menschen sich an, ihresgleichen zu töten? Es kann dies gewiß nicht jenes sein, von dem die Souveränität und die Gesetze sich herleiten.“71

      Wir werden später noch einmal auf jene merkwürdige, ebenso rousseauistische wie anti-rousseauistische Bewegung zurückkommen, die auf diese Passage bei Beccaria folgt, und wir werden sehen, wie der merkwürdige Gebrauch, den er von Rousseaus Begriff der volonté générale macht, ihn zu einer Schlussfolgerung führt, die der von Rousseau im Contrat social über die СКАЧАТЬ