Название: Walter Benjamin: Gesamtausgabe - Sämtliche Werke
Автор: Walter Benjamin
Издательство: Ingram
Жанр: Контркультура
isbn: 9789176377444
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Wilamowitz definiert: »eine attische tragödie ist ein in sich abgeschlossenes stück der heldensage, poetisch bearbeitet in erhabenem stile für die darstellung durch einen attischen bürgerchor und zwei bis drei schauspieler, und bestimmt als teil des öffentlichen gottesdienstes im heiligtume des Dionysos aufgeführt zu werden.«480 An anderer Stelle: »so führt eine jede betrachtung zuletzt auf das verhältnis der tragödie zur sage zurück. darin liegt die wurzel ihres wesens, daher stammen ihre besondern vorzüge und schwächen, darin liegt der unterschied der attischen tragödie von jeder andern dramatischen poesie.«481 Die philosophische Bestimmung der Tragödie hat hier anzuheben und zwar wird sie es mit der Einsicht tun, daß diese nicht als bloße theatralische Gestalt der Sage sich ergreifen läßt. Denn die Sage ist ihrer Natur nach tendenzlos. Die Ströme der Überlieferung, wie sie von oft entgegengesetzten Seiten in heftiger Aufwallung niederstürzen, haben zuletzt im epischen Spiegel eines geteilten, vielarmigen Bettes sich beruhigt. Der epischen stellt sich die tragische Dichtung als tendenziöse Umformung der Tradition entgegen. Wie intensiv und wie bedeutungsvoll sie umzubilden wußte, zeigt das Ödipusmotiv.482 Dennoch haben ältere Theoretiker, wie Wackernagel, recht, wenn sie Erfindung für unvereinbar mit dem Tragischen erklären.483 Die Umbildung der Sage nämlich geschieht nicht auf der Suche nach tragischen Konstellationen, sondern in der Ausprägung einer Tendenz, die alle Bedeutung verlöre, wenn es nicht mehr Sage, Urgeschichte des Volks wäre, an der sie sich kund täte. Nicht also ein ›Niveaukonflikt‹484 zwischen dem Helden und der Umwelt schlechthin, wie Schelers Untersuchung »Zum Phänomen des Tragischen« ihn für bezeichnend erklärt, bildet die Signatur der Tragödie, sondern die einmalige griechische Art solcher Konflikte. Worin ist sie zu suchen? Welche Tendenz verbirgt sich im Tragischen? Wofür stirbt der Held? – Die tragische Dichtung ruht auf der Opferidee. Das tragische Opfer aber ist in seinem Gegenstande – dem Helden – unterschieden von jedem anderen und ein erstes und letztes zugleich. Ein letztes im Sinne des Sühnopfers, das Göttern, die ein altes Recht behüten, fällt; ein erstes im Sinn der stellvertretenden Handlung, in welcher neue Inhalte des Volkslebens sich ankündigen. Diese, wie sie zum Unterschiede von den alten todbringenden Verhaftungen nicht auf oberes Geheiß, sondern auf das Leben des Heros selbst zurückweisen, vernichten ihn, weil sie, inadäquat dem Einzelwillen, allein dem Leben der noch ungeborenen Volksgemeinschaft den Segen bringen. Der tragische Tod hat die Doppelbedeutung, das alte Recht der Olympischen zu entkräften und als den Erstling einer neuen Menschheitsernte dem unbekannten Gott den Helden hinzugeben. Aber auch dem tragischen Leiden, wie Aischylos in der »Orestie«, Sophokles im »Ödipus« es darstellt, kann diese Doppelkraft einwohnen. Tritt in dieser Gestalt der Sühnecharakter des Opfers weniger hervor, so desto klarer seine Verwandlung, welche Ersatz des Todverfallenseins durch einen Anfall ausdrückt, der dem alten Bewußtsein von Göttern und Opfer ebensowohl genugtat wie sichtlich in die Form des neuen sich kleidet. Tod wird dabei zur Rettung: Todeskrisis. Ein ältestes Beispiel ist die Ablösung der Schlachtung des Menschen am Altare durch Entlaufen vor dem Messer des Opferers, d. h. Herumlaufen um den Altar mit schließlichem Anfassen des Altars durch den Todgeweihten, wobei der Altar zum Asyl, der zornige Gott zum gnädigen, der zu Tötende zum Gottes-Gefangenen und -Diener wird. Dies ist ganz das Schema der »Orestie«. Diese agonale Prophetie unterscheidet ihre Beschränkung auf den Umkreis des Todes, ihre unbedingte Angewiesenheit auf die Gemeinde und vor allem die nichts weniger als garantierte Endgültigkeit ihrer Lösung und Erlösung von aller episch-didaktischen. Woher aber am Ende das Recht, von einer ›agonalen‹ Darstellung zu sprechen? ein Recht, welches aus der hypothetischen Ableitung des tragischen Vorgangs aus dem Opferlauf um die Thymele noch nicht hinreichend dürfte gestützt werden können. Zunächst darin erweist es sich, daß die attischen Bühnenspiele in Gestalt von Wettkämpfen vor sich gingen. Nicht die Dichter allein, auch die Protagonisten, ja die Choregen traten in Konkurrenz. Innerlich aber gründet dies Recht in der stummen Beklemmung, welche jeder tragische Vollzug nicht sowohl den Zuschauern mitteilt als in seinen Personen zur Schau stellt. Unter ihnen vollzieht er sich in der sprachlosen Konkurrenz des Agon. Die Unmündigkeit des tragischen Helden, welche die Hauptfigur der griechischen Tragödie gegen jeden späteren Typus abhebt, hat die Analyse des ›metaethischen Menschen‹ durch Franz Rosenzweig zu einem Grundstein der Tragödienlehre gemacht. »Denn das ist das Merkzeichen des Selbst, das Siegel seiner Größe wie auch das Mal seiner Schwäche: es schweigt. Der tragische Held hat nur eine Sprache, die ihm vollkommen entspricht: eben das Schweigen. So ist es von Anfang an. Das Tragische hat sich gerade deshalb die Kunstform des Dramas geschaffen, um das Schweigen darstellen zu können … Indem der Held schweigt, bricht er die Brücken, die ihn mit Gott und Welt verbinden, ab und erhebt sich aus den Gefilden der Persönlichkeit, die sich redend gegen andre abgrenzt und individualisiert, in die eisige Einsamkeit des Selbst. Das Selbst weiß ja von nichts außer sich, es ist einsam schlechthin. Wie soll es diese seine Einsamkeit, dieses starre Trotzen in sich selbst, anders betätigen als eben indem es schweigt? СКАЧАТЬ