Walter Benjamin: Gesamtausgabe - Sämtliche Werke. Walter Benjamin
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Название: Walter Benjamin: Gesamtausgabe - Sämtliche Werke

Автор: Walter Benjamin

Издательство: Ingram

Жанр: Контркультура

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isbn: 9789176377444

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СКАЧАТЬ durch ein aufs Urvernehmen allererst zurückgehendes Erinnern einzig geschehen. Die platonische Anamnesis steht dieser Erinnerung vielleicht nicht fern. Nur daß es nicht um eine anschauliche Vergegenwärtigung von Bildern sich handelt; vielmehr löst in der philosophischen Kontemplation aus dem Innersten der Wirklichkeit die Idee als das Wort sich los, das von neuem seine benennenden Rechte beansprucht. In solcher Haltung aber steht zuletzt nicht Platon, sondern Adam, der Vater der Menschen als Vater der Philosophie, da. Das adamitische Namengeben ist so weit entfernt Spiel und Willkür zu sein, daß vielmehr gerade in ihm der paradiesische Stand sich als solcher bestätigt, der mit der mitteilenden Bedeutung der Worte noch nicht zu ringen hatte. Wie die Ideen intentionslos im Benennen sich geben, so haben sie in philosophischer Kontemplation sich zu erneuern. In dieser Erneuerung stellt das ursprüngliche Vernehmen der Worte sich wieder her. Und so ist die Philosophie im Verlauf ihrer Geschichte, die so oft ein Gegenstand des Spottes gewesen ist, mit Grund ein Kampf um die Darstellung von einigen wenigen, immer wieder denselben Worten – von Ideen. Die Einführung neuer Terminologien, soweit sie nicht streng im begrifflichen Bereich sich hält, sondern auf die letzten Gegenstände der Betrachtung es absieht, ist daher innerhalb des philosophischen Bereichs bedenklich. Solche Terminologien – ein mißglücktes Benennen, an welchem das Meinen mehr Anteil hat als die Sprache – entraten der Objektivität, welche die Geschichte den Hauptprägungen der philosophischen Betrachtungen gegeben hat. Diese stehen, wie bloße Worte es nie vermögen, in vollendeter Isolierung für sich. Und so bekennen die Ideen das Gesetz, das da besagt: Alle Wesenheiten existieren in vollendeter Selbständigkeit und Unberührtheit, nicht von den Phänomenen allein, sondern zumal voneinander. Wie die Harmonie der Sphären auf den Umläufen der einander nicht berührenden Gestirne, so beruht der Bestand des mundus intelligibilis auf der unaufhebbaren Distanz zwischen den reinen Wesenheiten. Jede Idee ist eine Sonne und verhält sich zu ihresgleichen wie eben Sonnen zueinander sich verhalten. Das tönende Verhältnis solcher Wesenheiten ist die Wahrheit. Deren benannte Vielheit ist zählbar. Denn Diskontinuierlichkeit gilt von den »Wesenheiten …, die ein von den Gegenständen und ihren Beschaffenheiten toto coelo verschiedenes Leben führen; deren Existenz sich dadurch nicht dialektisch erzwingen läßt, daß wir einen beliebigen, an einem Gegenstand uns begegnenden … Komplex herausgreifen und hinzufügen: καϑ’ αὑτὸ, sondern deren Zahl gezählt ist und von denen jede einzelne an dem ihr zukommenden Orte ihrer Welt mühsam zu suchen ist, bis man auf sie stößt, als auf einen rocher de bronce, oder bis sich die Hoffnung auf ihre Existenz als trügerisch erweist«.323 Nicht selten hat die Unkunde von dieser ihrer diskontinuierlichen Endlichkeit energische Versuche zur Erneuerung der Ideenlehre, zuletzt noch die der älteren Romantiker, gebrochen. In ihrem Spekulieren nahm die Wahrheit anstelle ihres sprachlichen Charakters den eines reflektierenden Bewußtseins an.

      Das Trauerspiel im Sinn der kunstphilosophischen Abhandlung ist eine Idee. Von der literarhistorischen unterscheidet eine solche sich am auffallendsten darin, daß sie Einheit da voraussetzt, wo jener Mannigfaltigkeit zu erweisen obliegt. Die Differenzen und Extreme, welche die literarhistorische Analyse ineinander überführt und als Werdendes relativiert, erhalten in begrifflicher Entwicklung den Rang komplementärer Energien und die Geschichte erscheint nur als der farbige Rand einer kristallinischen Simultaneität. Notwendig werden der Kunstphilosophie die Extreme, virtuell der historische Ablauf. Umgekehrt ist das Extrem einer Form oder Gattung die Idee, die als solche in die Literaturgeschichte nicht eingeht. Trauerspiel als Begriff würde der Reihe ästhetischer Klassifikationsbegriffe sich problemlos einordnen. Anders verhält sich zum Bereich der Klassifikationen die Idee. Sie bestimmt keine Klasse und enthält jene Allgemeinheit, auf welcher im System der Klassifikationen die jeweilige Begriffsstufe ruht, die des Durchschnitts nämlich, nicht in sich. Es konnte auf die Dauer nicht verborgen bleiben, wie mißlich es infolgedessen um die Induktion in kunsttheoretischen Untersuchungen steht. Bei neueren Forschern setzt die kritische Ratlosigkeit ein. Gelegentlich seiner Untersuchung »Zum Phänomen des Tragischen« sagt Scheler: »Wie … ist … vorzugehen? Sollen wir uns allerhand Beispiele des Tragischen, d. h. allerhand Vorkommnisse und Geschehnisse, von denen Menschen den Eindruck des Tragischen aussagen, zusammenstellen und dann induktorisch fragen, was sie denn ›gemeinsam‹ haben? Das wäre eine Art induktorischer Methode, die auch experimentell unterstützt werden könnte. Indes dies würde uns noch weniger weiterführen als die Beobachtung unseres Ich, wenn Tragisches auf uns wirkt. Denn mit welchem Recht sollen wir den Aussagen der Leute das Vertrauen entgegenbringen, es sei auch tragisch, was sie so nennen?«324 Es kann zu nichts führen, Ideen induktiv – ihrem ›Umfang‹ nach – aus der populären Redeweise bestimmen zu wollen, um sodann auf die Wesensergründung des umfänglich Fixierten auszugehen. Denn der Sprachgebrauch ist dem Philosophen zwar unschätzbar, wo er als Hinweisung auf Ideen, verfänglich aber, wo er in seiner Interpretation durch laxes Reden oder Denken als förmlicher Begriffsgrund hingenommen wird. Ja, dieser Sachverhalt erlaubt es auszusprechen, daß nur mit äußerster Zurückhaltung der Philosoph der Gepflogenheit landläufigen Denkens, die Worte, um ihrer desto besser sich zu versichern, zu Artbegriffen zu machen, sich nähern darf. Gerade die Kunstphilosophie ist dieser Suggestion nicht selten erlegen. Denn wenn – unter vielen ein drastisches Beispiel – die »Ästhetik des Tragischen« von Volkelt in ihre Untersuchungen Stücke von Holz oder Halbe im gleichen Sinne wie Dramen von Aischylos oder Euripides einbezieht, ohne auch nur zu fragen, ob das Tragische eine gegenwärtig überhaupt zu erfüllende Form oder aber eine geschichtlich gebundene sei, so liegt, aufs Tragische gesehen, in so verschiedenen Materien nicht Spannung, sondern tote Disparatheit vor. Bei der so entstehenden Häufung von Fakten, unter denen bald die ursprünglichen spröderen vom Wust der ansprechenden modernen verdeckt sind, kann der Untersuchung, die, um das ›Gemeinsame‹ zu ergründen, dieser Stapelei sich unterzog, nichts in Händen bleiben, als einige psychologische Daten, die in der Subjektivität, wenn nicht des Forschers so des gleichzeitigen Normalbürgers, das Verschiedengeartete durch die Gleichheit einer ärmlichen Reaktion zur Deckung bringen. In den Begriffen der Psychologie läßt sich vielleicht eine Vielgestaltigkeit von Eindrücken wiedergeben, von der es belanglos bleibt, daß Kunstwerke sie hervorriefen, nicht aber das Wesen eines Kunstgebietes. Dies geschieht vielmehr in einer durchgebildeten Darlegung seines Formbegriffs, dessen metaphysischer Gehalt nicht sowohl im Inneren befindlich als wirkend zu erscheinen und wie das Blut den Körper zu durchpulsen hat.

      Das Haften an der Vielgestaltigkeit auf der einen, die Gleichgültigkeit gegen das strenge Denken auf der anderen Seite sind stets die Bestimmungsgründe einer unkritischen Induktion gewesen. Immer handelt es sich um die Scheu vor konstitutiven Ideen – den universaliis in re – wie sie gelegentlich von Burdach mit besonderer Schärfe formuliert worden ist. »Ich habe versprochen, vom Ursprung des Humanismus zu reden, als sei er ein lebendiges Wesen, das als Ganzes irgendwo und irgendwann auf die Welt kam und als Ganzes dann weiter gewachsen ist … Wir verfahren dabei wie die sogenannten Realisten unter den Scholastikern des Mittelalters, die den allgemeinen Begriffen, den ›Universalien‹, Realität beilegten. In gleicher Weise setzen auch wir – hypostasierend wie die Mythologien der Urzeit – ein Wesen von einheitlicher Substanz und von voller Wirklichkeit und heißen es, als wäre es ein lebendiges Individuum, Humanismus. Wir sollten uns aber hier wie in unzähligen ähnlichen Fällen … darüber klar werden, daß wir einen abstrakten Hilfsbegriff nur erfinden, um unendliche Reihen mannigfaltiger geistiger Erscheinungen und recht verschiedener Persönlichkeiten uns übersichtlich und faßbar zu machen. Wir können das, nach einem Grundsatz menschlicher Wahrnehmung und Erkenntnis, nur dadurch erreichen, daß wir gewisse Eigentümlichkeiten, die in diesen Reihen von Varietäten uns ähnlich oder übereinstimmend erscheinen, aus dem uns angeborenen systematischen Bedürfnis schärfer sehen und stärker betonen als die Unterschiede … Diese Marken Humanismus oder Renaissance sind willkürlich, ja irrig, weil sie diesem vielquelligen, vielgestaltigen, vielgeistigen Leben den falschen Schein einer realen Wesenseinheit geben. Und ebenso eine willkürliche, ja irreführende Maske ist der seit Burckhardt und Nietzsche vielbeliebte ›Renaissancemensch‹.«325 Eine Anmerkung des Autors zu dieser Stelle lautet: »Das üble Gegenstück des unausrottbaren ›Renaissancemenschen‹ ist ›der gotische Mensch‹, der heute eine verwirrende Rolle spielt und selbst in der Gedankenwelt bedeutender, verehrungswürdiger Geschichtsforscher (E. Troeltsch!) sein gespenstisches Wesen treibt. Dazu tritt dann noch ›der barocke Mensch‹, als welcher uns z. B. Shakespeare vorgestellt СКАЧАТЬ