Walter Benjamin: Gesamtausgabe - Sämtliche Werke. Walter Benjamin
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Название: Walter Benjamin: Gesamtausgabe - Sämtliche Werke

Автор: Walter Benjamin

Издательство: Ingram

Жанр: Контркультура

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isbn: 9789176377444

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СКАЧАТЬ geschähe, kommt sie in den folgenden Sätzen von Charles Péguy zur Geltung. Aus ihnen ergibt sich, wo die Verschiedenheit in Hugos und Baudelaires Konzeption der Antike zu suchen ist. »Dessen soll man versichert sein: wenn Hugo den Bettler an der Landstraße sah, … so sah er ihn wie er ist, wirklich so, wie er wirklich ist …, auf der antiken Landstraße ihn, den antiken Bettler, den antiken Flehenden. Wenn er die Marmorverkleidung eines unserer Kamine sah oder die zementierten Ziegel an einem unserer modernen Kamine, so sah er sie als das, was sie sind: nämlich den Stein vom Herd. Den Stein vom antiken Herd. Wenn er die Tür des Hauses und die Schwelle sah, die für gewöhnlich ein behauener Stein ist, so erkannte er auf diesem behauenen Stein die antike Linie: die Linie der heiligen Schwelle, welche dieselbe ist.«1067 Kein besserer Kommentar zu der folgenden Stelle der »Misérables«: »Die Kneipen des Faubourg Saint-Antoine ähnelten den Tavernen des Aventin, die über der Höhle der Sibylle errichtet sind und in Verbindung mit den heiligen Eingebungen stehen; die Tische dieser Tavernen waren beinahe Dreifüße und Ennius spricht von dem sibyllinischen Wein, der da getrunken wurde.«1068 Aus der gleichen Anschauungsweise stammt das Werk, in dem das erste Bild einer ›pariser Antike‹ erscheint, Hugos Gedichtzyklus »A l’arc de triomphe«. Die Verherrlichung dieses Baudenkmals geht von der Vision einer pariser Campagna aus, einer »immense campagne«, in der nur drei Monumente der untergegangenen Stadt überdauern: die Sainte-Chapelle, die Vendôme-Säule und der Triumphbogen. Die hohe Bedeutung, die dieser Zyklus im Werk von Victor Hugo hat, entspricht der Stelle, die er in der Entstehung eines der Antike angeformten Bildes vom Paris des neunzehnten Jahrhunderts einnimmt. Baudelaire hat ihn unzweifelhaft gekannt. Er stammt aus dem Jahre 1837.

      Bereits sieben Jahre früher notiert der Historiker Friedrich von Raumer in seinen »Briefen aus Paris und Frankreich im Jahre 1830«: »Vom Thurme Notre Dame herab übersah ich gestern die ungeheure Stadt; wer hat das erste Haus gebaut, wann wird das letzte Zusammenstürzen und der Boden von Paris aussehen wie der von Theben und Babylon?«1069 Diesen Boden wie er sein wird, wenn dereinst »dies Ufer, wo das Wasser an tönenden Brückenbogen sich bricht, den murmelnden Binsen, die sich neigen, wird wiedergegeben sein«1070, hat Hugo beschrieben:

      Mais non, tout sera mort. Plus rien dans cette plaine

       Qu’un peuple évanoui dont elle est encor pleine. 1071

      Hundert Jahre nach Raumer wirft von Sacré-Cœur, einem anderen erhobenen Orte der Stadt, Léon Daudet auf Paris einen Blick. In seinem Auge spiegelt die Geschichte der ›Moderne‹ bis auf den gegenwärtigen Augenblick sich in schreckenerregender Kontraktion: »Man sieht von oben her auf diese Ansammlung von Palais, Monumenten, Häusern und Baracken und bekommt das Gefühl, sie seien einer Katastrophe oder mehreren vorbestimmt – meteorologischen oder gesellschaftlichen … Ich habe Stunden auf Fourvières mit dem Blick auf Lyon, auf Notre-Dame de la Garde mit dem Blick auf Marseille, auf Sacré-Cœur mit dem Blick auf Paris zugebracht … Was von diesen Anhöhen aus am deutlichsten erkennbar wird, ist die Drohung. Die Menschenansammlungen sind bedrohlich; … der Mensch hat Arbeit nötig, das ist richtig, aber er hat auch andere Bedürfnisse … Er hat unter anderen Bedürfnissen das des Selbstmords, das in ihm und in der Gesellschaft, welche ihn bildet, steckt; und es ist stärker als sein Selbsterhaltungstrieb. So wundert man sich, wenn man oben von Sacré-Cœur, Fourvières und Notre-Dame de la Garde heruntersieht, daß Paris, Lyon, Marseille noch vorhanden sind.«1072 Dies ist das Gesicht, das die passion moderne, die Baudelaire im Selbstmord erkannte, im gegenwärtigen Jahrhundert bekommen hat.

      Die Stadt Paris trat in dies Jahrhundert in der Gestalt ein, die ihr Haussmann gegeben hat. Seine Umwälzung des Stadtbildes hatte er mit den denkbar bescheidensten Mitteln ins Werk gesetzt: Spaten, Hacken, Brecheisen und dergleichen. Welches Maß von Zerstörung hatten nicht schon diese beschränkten hervorgerufen! Und wie wuchsen seither mit den großen Städten die Mittel, sie dem Erdboden gleichzumachen! Welche Bilder vom Kommenden rufen sie nicht hervor! – Die Arbeiten Haussmanns standen auf ihrem Höhepunkt, ganze Quartiers wurden abgerissen, da befand sich an einem Nachmittag des Jahres 1862 Maxime Du Camp auf dem Pont neuf. Er wartete unweit vom Laden eines Optikers auf seine Augengläser. »Der Autor, der an der Schwelle des Alters stand, erfuhr einen jener Augenblicke, in denen der Mann, sein verflossenes Leben überdenkend, in allem seine eigene Melancholie gespiegelt sieht. Das geringe Nachlassen seiner Sehschärfe, dessen der Besuch beim Optiker ihn überführt hatte, rief ihm das Gesetz der unvermeidlichen Hinfälligkeit aller menschlichen Dinge … in die Erinnerung … Ihm, dem weit im Orient Herumgekommenen, dem in den Einöden Bewanderten, deren Sand Staub von Toten ist, kam plötzlich der Gedanke, auch diese Stadt, die ihn umbrauste, würde einst sterben müssen wie so viele Kapitalen … gestorben sind. Ihm fiel ein, wie außerordentlich uns heute eine genaue Darstellung von Athen zur Zeit des Perikies, von Kathargo zur Zeit des Barca, von Alexandrien zur Zeit der Ptolemäer, von Rom zur Zeit der Caesaren interessieren würde … Dank einer blitzartigen Eingebung, wie sie einem bisweilen zu einem außerordentlichen Sujet verhilft, faßte er den Plan, das Buch über Paris zu schreiben, das die Geschichtsschreiber des Altertums über ihre Stadt nicht geschrieben haben … Das Werk seines reifen Alters erschien vor seinem geistigen Auge.«1073 In Hugos Gedicht »An den Triumphbogen«, in Du Camps großer verwaltungstechnischer Darstellung seiner Stadt ist die gleiche Inspiration zu erkennen, die für Baudelaires Idee der Moderne entscheidend wurde.

      Haussmann ging 1859 ans Werk. Es war durch Gesetzesvorlagen angebahnt, in seiner Notwendigkeit längst empfunden worden. »Nach 1848«, schreibt Du Camp in dem eben genannten Werk, »stand Paris im Begriff, unbewohnbar zu werden. Die ständige Ausdehnung des Eisenbahnnetzes … beschleunigte den Verkehr und den Bevölkerungszuwachs der Stadt. Die Leute erstickten in den engen, unsauberen, verschachtelten alten Gassen, in die sie gepfercht blieben, weil es nicht anders ging.«1074 Zu Beginn der fünfziger Jahre fing man in der pariser Bevölkerung an, in die Vorstellung von einer unausweichlichen großen Bereinigung des Stadtbildes sich zu schicken. Man darf annehmen, daß diese Bereinigung in ihrer Inkubationszeit auf eine bedeutende Phantasie ebenso stark wirken konnte, wenn nicht stärker, als der Anblick der urbanistischen Arbeiten selbst. »Les poëtes sont plus inspirés par les images que par la présence même des objets«1075, sagt Joubert. Von den Künstlern darf Gleiches gelten. Das, wovon man weiß, daß man es bald nicht mehr vor sich haben wird, das wird Bild. So wurden es wohl die pariser Straßen zu jener Zeit. Jedenfalls lag das Werk, dessen unterirdischer Zusammenhang mit der großen Umwälzung von Paris am wenigsten zu bezweifeln ist, einige Jahre ehe sie unternommen wurde vollendet vor. Es waren Meryons radierte Ansichten von Paris. Niemand ist mehr von ihnen beeindruckt worden als Baudelaire. Ihm war die archäologische Ansicht der Katastrophe, wie sie den Träumen Hugos zugrunde lag, nicht die eigentlich bewegende. Ihm sollte die Antike mit einem Schlag, eine Athene aus dem Haupte des unversehrten Zeus, aus der unversehrten Moderne steigen. Meryon trieb das antike Antlitz der Stadt heraus, ohne einen Pflasterstein von ihr preiszugeben. Diese Ansicht der Sache war es, welcher Baudelaire unablässig im Gedanken der modernité nachgehangen hatte. Er bewunderte Meryon leidenschaftlich.

      Beide waren einander wahlverwandt. Ihr Geburtsjahr ist das gleiche; ihr Tod liegt nur um Monate auseinander. Beide starben vereinsamt und schwer gestört; Meryon als Dementer in Charenton, Baudelaire, ohne Sprache, in einer Privatklinik. Beider Ruhm hat sich spät auf den Weg gemacht. Für Meryon ist zu Lebzeiten Baudelaire fast als der einzige eingetreten1076. Weniges in seinen Prosastücken läßt sich mit dem kurzen Text über Meryon messen. Von Meryon handelnd, huldigt er der Moderne; er huldigt aber dem antiken Gesicht in ihr. Denn auch bei Meryon durchdringen einander die Antike und die Moderne; auch bei Meryon tritt die Form dieser Überblendung, die Allegorie, unverkennbar auf. Die Beschriftung ist auf seinen Blättern von Wichtigkeit. Spielt der Wahnsinn in ihren Text hinein, so unterstreicht sein Dunkel nur die ›Bedeutung‹. Die Meryonschen Verse unter der Ansicht des Pont neuf stehen als Auslegung, unbeschadet ihrer Spitzfindigkeit, in nächster Nachbarschaft des »Squelette laboureur«:

      Ci-gît du vieux Pont-Neuf

      L’exacte ressemblance

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