Walter Benjamin: Gesamtausgabe - Sämtliche Werke. Walter Benjamin
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Название: Walter Benjamin: Gesamtausgabe - Sämtliche Werke

Автор: Walter Benjamin

Издательство: Ingram

Жанр: Контркультура

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isbn: 9789176377444

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СКАЧАТЬ das Capharnaum des Abhubs; er sondert die Dinge, er trifft eine kluge Wahl; er verfährt wie ein Geizhals mit einem Schatz und hält sich an den Schutt, der zwischen den Kinnladen der Göttin der Industrie die Form nützlicher oder erfreulicher Sachen annehmen wird.«1053 Diese Beschreibung ist eine einzige ausgedehnte Metapher für das Verfahren des Dichters nach dem Herzen von Baudelaire. Lumpensammler oder Poet – der Abhub geht beide an; beide gehen einsam ihrem Gewerbe nach, zu Stunden, wo die Bürger dem Schlafe fronen; selbst der Gestus ist der gleiche bei ihnen beiden. Nadar spricht von Baudelaires »pas saccadé«1054; das ist der Schritt des Dichters, der nach Reimbeute die Stadt durchirrt; es muß auch der Schritt des Lumpensammlers sein, der alle Augenblick auf seinem Wege innehält, um den Abfall, auf den er stößt, aufzulesen. Vieles spricht dafür, daß Baudelaire verhohlen diese Verwandtschaft zur Geltung hat bringen wollen. Eine Wahrsagung birgt sie auf jeden Fall. Sechzig Jahre später erscheint ein Bruder des zum Lumpensammler herabgesunkenen Dichters bei Apollinaire. Es ist Croniamantal, der poète assassiné – erstes Opfer des Pogroms, der auf der ganzen Erde dem Geschlecht der Lyriker ein Ende bereiten soll.

      Über der Poesie des Apachentums liegt ein Zwielicht. Stellt der Auswurf die Helden der großen Stadt? oder ist Held nicht vielmehr der Dichter, der aus solchem Stoffe sein Werk erbaut1055? – Die Theorie der Moderne räumt beides ein. Aber der alternde Baudelaire deutet in einem späten Gedicht »Les plaintes d’un Icare« an, daß er nicht mehr mit dem Schlage von Menschen fühlt, unter dem er in der Jugend Heroen suchte.

      Les amants des prostituées

      Sont heureux, dispos et repus;

      Quant à moi, mes bras sont rompus

       Pour avoir étreint des nuées. 1056

      Der Dichter, der Platzhalter des antiken Helden, wie der Titel des Stücks es sagt, hat dem modernen Helden, von dessen Taten die »Gazette des tribunaux« berichtet, weichen müssen1057. In Wahrheit ist im Begriff des modernen Heros dieser Verzicht bereits angelegt. Er ist zum Untergang vorbestimmt und um dessen Notwendigkeit darzustellen, braucht kein Tragiker aufzustehen. Ist ihr aber ihr Recht geworden, so ist die Moderne abgelaufen. Dann wird die Probe auf sie gemacht werden. Nach ihrem Ende wird sich erweisen, ob sie selber je Antike wird werden können.

      Diese Frage blieb Baudelaire stets vernehmbar. Den alten Anspruch auf die Unsterblichkeit erfuhr er als seinen Anspruch, einmal wie ein antiker Schriftsteller gelesen zu werden. Daß »alle Moderne es wirklich wert sei, dereinst Antike zu werden«1058 – das ist ihm die Umschreibung der künstlerischen Aufgabe überhaupt. An Baudelaire bemerkt Gustave Kahn sehr treffend einen »refus de l’occasion, tendue par la nature du prétexte lyrique«1059. Was ihn gegen Gelegenheiten und Anlässe spröde machte, war das Bewußtsein von jener Aufgabe. Nichts kommt für ihn in der Epoche, welcher er selber zufiel, der ›Aufgabe‹ des antiken Heros, den ›Arbeiten‹ eines Herakles näher als die ihm selber als die eigenste auferlegte: der Moderne Gestalt zu geben.

      Unter allen Verhältnissen, in die die Moderne tritt, ist das zur Antike ein ausgezeichnetes. Für Baudelaire stellt sich das an Victor Hugo dar. »Das Geschick führte ihn dazu, … die antike Ode und die antike Tragödie bis zu … den Gedichten und Dramen umzubilden, die wir von ihm kennen.«1060 Die Moderne bezeichnet eine Epoche; sie bezeichnet zugleich die Kraft, die in dieser Epoche am Werke ist, der Antike sie anverwandelnd. Widerwillig und in gezählten Fällen wurde sie Hugo von Baudelaire zugestanden. Wagner dagegen erschien ihm als schrankenlose, unverfälschte Ausströmung dieser Kraft. »Wenn Wagner in der Wahl seiner Sujets und in seinem dramatischen Verfahren der Antike nahekommt, so ist er dank seiner leidenschaftlichen Ausdruckskraft gegenwärtig der wichtigste Repräsentant der Moderne.«1061 Der Satz enthält in nuce Baudelaires Theorie der modernen Kunst. Die Vorbildlichkeit der Antike beschränkt sich nach ihr auf die Konstruktion; die Substanz und Inspiration des Werkes ist die Sache der modernité. »Wehe dem, der anderes am Altertum studiert als die reine Kunst, die Logik, die allgemeine Methode. Vertieft er sich in die Antike allzu sehr, … so entäußert er sich … der Privilegien, die die Gelegenheit ihm bietet.«1062 Und in den Schlußsätzen des Essays über Guys heißt es; »Allerorten hat er die transitorische, flüchtige Schönheit unseres gegenwärtigen Lebens gesucht. Der Leser hat uns erlaubt, sie die Modernität zu nennen.«1063 Zusammengefaßt nimmt sich die Doktrin folgendermaßen aus: »Am Schönen wirken ein ewiges, unveränderliches … und ein relatives, bedingtes Element zusammen. Dieses letzte … wird von der Epoche, der Mode, der Moral, den Leidenschaften gestellt. Ohne dieses zweite Element … wäre das erste nicht assimilierbar.«1064 Man kann nicht sagen, daß das in die Tiefe geht.

      Die Theorie der modernen Kunst ist in Baudelaires Ansicht von der Moderne der schwächste Punkt. Die letztere zeigt die modernen Motive auf; Sache der ersten wäre wohl eine Auseinandersetzung mit der antiken Kunst gewesen. Dergleichen hat Baudelaire nie versucht. Den Verzicht, der in seinem Werk als Ausfall der Natur und der Naivität erscheint, hat seine Theorie nicht bewältigt. Ihre Abhängigkeit von Poe, die bis in die Formulierung geht, ist ein Ausdruck ihrer Befangenheit. Ihre polemische Ausrichtung ist ein anderer; sie hebt sich von dem grauen Fond des Historizismus ab, von dem akademischen Alexandrinertum, das mit Villemain und Cousin im Schwange ging. Keine ihrer ästhetischen Reflexionen hat die Moderne in ihrer Durchdringung mit der Antike dargestellt, wie das in gewissen Stücken der »Fleurs du mal« geschieht.

      Unter ihnen steht das Gedicht »Le cygne« voran. Nicht umsonst ist es ein allegorisches. Diese Stadt, die in steter Bewegung begriffen ist, erstarrt. Sie wird spröde wie Glas, aber auch wie Glas durchsichtig – nämlich auf ihre Bedeutung hin. »(La forme d’une ville | Change plus vite, hélas! que le cœur d’un mortel.)«1065 Die Statur von Paris ist gebrechlich; es ist umstellt von Sinnbildern der Gebrechlichkeit. Kreatürlichen – der Negerin und dem Schwan; und historischen – der Andromache, »Hektors Witwe und Weib des Helenus«. Trauer über das was war und Hoffnungslosigkeit in das Kommende ist der gemeinsame Zug an ihnen. Worin zuletzt und am innigsten die Moderne der Antike sich anverlobt, das ist diese Hinfälligkeit. Paris, wo immer es in den »Fleurs du mal« vorkommt, trägt deren Male. Der »Crépuscule du matin« ist das im Stoff einer Stadt nachgebildete Aufschluchzen eines Erwachenden; »Le soleil« zeigt die Stadt fadenscheinig wie ein altes Gewebe im Sonnenlicht; der Greis, der tagtäglich von neuem resigniert nach seinem Handwerkszeug greift, weil die Sorgen im Alter nicht von ihm gelassen haben, ist die Allegorie der Stadt, und Greisinnen – »Les petites vieilles« – sind unter ihren Einwohnern die einzig vergeistigten. Daß diese Gedichte unangefochten die Jahrzehnte durchdrungen haben, danken sie einem sie wappnenden Vorbehalt. Es ist der Vorbehalt gegen die große Stadt. Er unterscheidet sie von fast aller Großstadtdichtung, die nach ihnen gekommen ist. Eine Strophe von Verhaeren genügt, zu erfassen, um was es hierbei geht.

      Et qu’importent les maux et les heures démentes

      Et les cuves de vice où la cité fermente

      Si quelque jour, du fond des brouillards et des voiles

      Surgit un nouveau Christ, en lumière sculpté

      Qui soulève vers lui l’humanité

       Et la baptise au feu de nouvelles étoiles. 1066

      Baudelaire kennt solche Perspektiven nicht. Sein Begriff von der Hinfälligkeit der großen Stadt steht im Ursprung der Dauer der Gedichte, welche er auf Paris geschrieben hat.

      Auch das Gedicht »Le cygne« ist Hugo gewidmet; vielleicht als einem der Wenigen, deren Werk, wie es Baudelaire schien, eine neue Antike zum Vorschein brachte. Soweit bei Hugo davon die Rede sein kann, ist die Quelle seiner Inspiration von der Baudelaires grundverschieden. Hugo ist das Erstarrungsvermögen fremd, das – wenn ein biologischer Begriff statthaft ist – СКАЧАТЬ