Walter Benjamin: Gesamtausgabe - Sämtliche Werke. Walter Benjamin
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Название: Walter Benjamin: Gesamtausgabe - Sämtliche Werke

Автор: Walter Benjamin

Издательство: Ingram

Жанр: Контркультура

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isbn: 9789176377444

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СКАЧАТЬ größer als Brutus da?«1115 Größer als Brutus war freilich weniger groß. Denn als Napoleon III. zur Herrschaft kam, erkannte Baudelaire in ihm den Caesar nicht. Darin war Blanqui ihm überlegen. Aber tiefer als beider Verschiedenheit reicht, was ihnen gemeinsam gewesen ist, reicht der Trotz und die Ungeduld, reicht die Kraft der Empörung und die des Hasses – reicht auch die Ohnmacht, die ihrer beider Teil war. Baudelaire nimmt in einer berühmten Zeile leichten Herzens Abschied von einer Welt, »in der die Tat nicht die Schwester des Traumes ist«1116. Seiner war nicht so verlassen als es ihm schien. Blanquis Tat ist die Schwester von Baudelaires Traum gewesen. Beide sind ineinander verschlungen. Es sind die ineinander verschlungenen Hände auf einem Stein, unter dem Napoleon III. die Hoffnungen der Junikämpfer begraben hatte.

      —————

      I

      Baudelaire hat mit Lesern gerechnet, die die Lektüre von Lyrik vor Schwierigkeiten stellt. An diese Leser wendet sich das einleitende Gedicht der »Fleurs du mal«. Mit ihrer Willenskraft und also auch wohl ihrem Konzentrationsvermögen ist es nicht weit her; sinnliche Genüsse werden von ihnen bevorzugt; sie sind mit dem spleen vertraut, der dem Interesse und der Aufnahmefähigkeit den Garaus macht. Es ist befremdend, einen Lyriker anzutreffen, der sich an dieses Publikum hält, das undankbarste. Gewiß liegt eine Erklärung bei der Hand. Baudelaire wollte verstanden werden: er widmet sein Buch denen, die ihm ähnlich sind. Das Gedicht an den Leser schließt mit der Apostrophe:

      Hypocrite lecteur, – mon semblable, – mon frère!1117

      Der Tatbestand erweist sich ergiebiger, wenn man ihn umformuliert und sagt: Baudelaire hat ein Buch geschrieben, das von vornherein wenig Aussicht auf einen unmittelbaren Publikumserfolg gehabt hat. Er rechnete mit einem Lesertyp, wie ihn das einleitende Gedicht beschreibt. Und es hat sich ergeben, daß das eine weitblickende Berechnung gewesen ist. Der Leser, auf den er eingerichtet war, wurde ihm von der Folgezeit beigestellt. Daß dem so ist, daß, mit andern Worten, die Bedingungen für die Aufnahme lyrischer Dichtungen ungünstiger geworden sind, dafür spricht, unter anderm, dreierlei. Erstens hat der Lyriker aufgehört, für den Poeten an sich zu gelten. Er ist nicht mehr ›der Sänger‹, wie noch Lamartine es war; er ist in ein Genre eingetreten. (Verlaine macht diese Spezialisierung handgreiflich; Rimbaud war schon Esoteriker, der das Publikum ex officio von seinem Werke fernhält.) Ein zweites Faktum: ein Massenerfolg lyrischer Poesie ist nach Baudelaire nicht mehr vorgekommen. (Noch Hugos Lyrik fand beim Erscheinen eine mächtige Resonanz. In Deutschland stellt das »Buch der Lieder« die Schwelle dar.) Ein dritter Umstand ist derart mitgegeben: das Publikum wurde spröder auch gegen lyrische Poesie, die ihm von früher her überkommen war. Die Spanne Zeit, von der hier die Rede ist, darf man ungefähr von der Mitte des vorigen Jahrhunderts an datieren. In der gleichen Epoche hat sich der Ruhm der »Fleurs du mal« ohne Unterlaß ausgebreitet. Das Buch, das mit den ungeneigtesten Lesern gezählt und anfangs nicht viele geneigte gefunden hatte, wurde im Laufe der Jahrzehnte zu einem klassischen; es wurde auch zu einem der meistgedruckten.

      Wenn die Bedingungen für die Aufnahme lyrischer Dichtungen ungünstiger geworden sind, so liegt es nahe, sich vorzustellen, daß die lyrische Poesie nur noch ausnahmsweise den Kontakt mit der Erfahrung der Leser wahrt. Das könnte sein, weil sich deren Erfahrung in ihrer Struktur verändert hat. Man wird diesen Ansatz vielleicht gutheißen, aber nur desto verlegener um eine Kennzeichnung dessen sein, was sich in ihr könnte gewandelt haben. In dieser Lage wird man bei der Philosophie nachfragen. Dabei stößt man auf einen eigentümlichen Sachverhalt. Seit dem Ausgang des vorigen Jahrhunderts stellte sie eine Reihe von Versuchen an, der ›wahren‹ Erfahrung im Gegensatze zu einer Erfahrung sich zu bemächtigen, welche sich im genormten, denaturierten Dasein der zivilisierten Massen niederschlägt. Man pflegt diese Vorstöße unter dem Begriff der Lebensphilosophie zu rubrizieren. Sie gingen begreiflicherweise nicht vom Dasein des Menschen in der Gesellschaft aus. Sie beriefen sich auf die Dichtung, lieber auf die Natur und zuletzt vorzugsweise auf das mythische Zeitalter. Diltheys Werk »Das Erlebnis und die Dichtung« ist eines der frühesten in der Reihe; sie endet mit Klages und mit Jung, der sich dem Faschismus verschrieben hat. Als weithin ragendes Monument erhebt sich Bergsons Frühwerk »Matière et mémoire« über diese Literatur. Mehr als die andern wahrt es Zusammenhänge mit der exakten Forschung. Es ist an der Biologie ausgerichtet. Sein Titel zeigt an, daß es die Struktur des Gedächtnisses als entscheidend für die philosophische der Erfahrung ansieht. In der Tat ist die Erfahrung eine Sache der Tradition, im kollektiven wie im privaten Leben. Sie bildet sich weniger aus einzelnen in der Erinnerung streng fixierten Gegebenheiten denn aus gehäuften, oft nicht bewußten Daten, die im Gedächtnis zusammenfließen. Das Gedächtnis geschichtlich zu spezifizieren, ist freilich Bergsons Absicht in keiner Weise. Jedwede geschichtliche Determinierung der Erfahrung weist er vielmehr zurück. Er meidet damit vor allem und wesentlich, derjenigen Erfahrung näherzutreten, aus der seine eigene Philosophie entstanden ist oder vielmehr gegen die sie entboten wurde. Es ist die unwirtliche, blendende der Epoche der großen Industrie. Dem Auge, das sich vor dieser Erfahrung schließt, stellt sich eine Erfahrung komplementärer Art als deren gleichsam spontanes Nachbild ein. Bergsons Philosophie ist ein Versuch, dieses Nachbild zu detaillieren und festzuhalten. Sie gibt derart mittelbar einen Hinweis auf die Erfahrung, die Baudelaire unverstellt, in der Gestalt seines Lesers, vor Augen tritt.

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      »Matière et mémoire« bestimmt das Wesen der Erfahrung in der durée derart, daß der Leser sich sagen muß: einzig der Dichter wird das adäquate Subjekt einer solchen Erfahrung sein. Ein Dichter ist es denn auch gewesen, der auf Bergsons Theorie der Erfahrung die Probe machte. Man kann Prousts Werk »A la recherche du temps perdu« als den Versuch ansehen, die Erfahrung, wie Bergson sie sich denkt, unter den heutigen gesellschaftlichen Bedingungen auf synthetischem Wege herzustellen. Denn mit ihrem Zustandekommen auf natürlichem Wege wird man weniger und weniger rechnen können. Proust entzieht sich übrigens der Debatte dieser Frage in seinem Werke nicht. Er bringt sogar ein neues Moment ins Spiel, das eine immanente Kritik an Bergson in sich schließt. Dieser versäumt nicht, den Antagonismus zu unterstreichen, der zwischen der vita activa und der besonderen vita contemplativa obwaltet, die sich aus dem Gedächtnis heraus erschließt. Es läßt sich aber bei Bergson so an, als ob die Hinwendung auf die schauende Vergegenwärtigung des Lebensstromes eine Sache der freien Entschließung sei. Proust meldet seine abweichende Überzeugung von vorneherein terminologisch an. Das reine Gedächtnis – die mémoire pure – der Bergsonschen Theorie wird bei ihm zur mémoire involontaire – einem Gedächtnis, das unwillkürlich ist. Unverzüglich konfrontiert Proust dieses unwillkürliche Gedächtnis mit dem willkürlichen, das sich in der Botmäßigkeit der Intelligenz befindet. Den ersten Seiten des großen Werks obliegt es, dieses Verhältnis ins Licht zu stellen. In der Betrachtung, die den Terminus einführt, spricht Proust davon, wie ärmlich sich seiner Erinnerung durch viele Jahre die Stadt Combray dargeboten habe, in der ihm doch ein Teil der Kindheit dahingegangen sei. Proust sei, ehe der Geschmack der madeleine (eines Gebäcks), auf den er dann oft zurückkommt, ihn eines Nachmittags in die alten Zeiten zurückbefördert habe, auf das beschränkt gewesen, was ein Gedächtnis ihm in Bereitschaft gehalten habe, das dem Appell der Aufmerksamkeit gefügig sei. Das sei die memoire volontaire, die willkürliche Erinnerung, und von ihr gilt, daß die Informationen, welche sie über das Verflossene erteilt, nichts von ihm aufbehalten. »So steht es mit unserer Vergangenheit. Umsonst, daß wir sie willentlich zu beschwören suchen; alle Bemühungen unserer Intelligenz sind dazu nichts nutze.«1118 Darum steht Proust nicht an, zusammenfassend zu erklären, das Verflossene befinde sich »außerhalb des Bereichs der Intelligenz und ihres Wirkungsfeldes in irgendeinem realen Gegenstand … In welchem wissen wir übrigens nicht. Und es ist eine Sache des Zufalls, ob wir auf ihn stoßen, ehe wir sterben, oder ob wir ihm nie begegnen.«1119

      Es ist nach Proust dem Zufall anheimgegeben, ob der einzelne von sich selbst ein Bild СКАЧАТЬ