Gabriele Reuter – Gesammelte Werke. Gabriele Reuter
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Название: Gabriele Reuter – Gesammelte Werke

Автор: Gabriele Reuter

Издательство: Bookwire

Жанр: Языкознание

Серия: Gesammelte Werke bei Null Papier

isbn: 9783962814076

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СКАЧАТЬ wie­der am Hau­se ih­rer El­tern vor­über ka­men, sah Mama aus dem Fens­ter und rief sie zum Es­sen.

      Aga­the ant­wor­te­te nicht und ging ru­hig wei­ter. Sie hör­te ihre Mut­ter hin­ter sich her ru­fen und ging im­mer wei­ter. Sie woll­te über­haupt nicht wie­der nach Hau­se zu­rück.

      Auf ei­nem frei­en Platz mit Blu­men­bee­ten setz­te sie sich auf eine der ei­ser­nen Ket­ten, die, zwi­schen Stein­pfei­lern her­ab­hän­gend, die An­la­gen schüt­zen soll­ten, hielt sich mit bei­den Hän­den fest und bau­mel­te mit den Bei­nen. Das ta­ten nur die all­er­ge­meins­ten Kin­der! Das Mäd­chen aus der Bür­ger­schu­le setz­te sich auch auf eine von den Ket­ten. So un­ter­hiel­ten sie sich. Von Ame­ri­ka. Wie weit es wäre, um dort­hin kom­men. Der Leh­rer hat­te ih­nen er­klärt, Ame­ri­ka läge ganz ge­nau auf der an­de­ren Sei­te von der Erde. Man brauch­te nur ein Loch zu gra­ben, furcht­bar tief – im­mer tiefer – dann käme man schließ­lich in Ame­ri­ka an.

      »Aber da­zwi­schen kommt erst Was­ser und dann Feu­er«, sag­te Aga­the nach­denk­lich. Das hat­te der Leh­rer nicht ge­sagt. Aber Aga­the glaub­te es, ganz be­stimmt. Eine ent­setz­li­che Lust plag­te sie, das mit dem Loch­gra­ben ein­mal zu ver­su­chen.

      Da kam drü­ben auf dem Trot­toir im hel­len Son­nen­schein Eu­ge­nie mit ih­rer Mut­ter. Sie hat­te ih­ren neu­en lila Sam­met­pa­le­tot an und das Ba­rett mit dem Fe­der­be­satz. Wie sie sich zier­te! Sie ging ganz sitt­sam zwi­schen ih­rer Mut­ter und ei­nem Of­fi­zier. Plötz­lich be­merk­te sie Aga­the und stand er­staunt still, sie wink­te und rief ih­ren Na­men. Aber Aga­the bau­mel­te mit den Bei­nen und kam nicht. Frau Wu­trow sag­te et­was zu Eu­ge­nie, alle drei Per­so­nen sa­hen, wie es Aga­the schi­en, em­pört zu ihr hin und spa­zier­ten dann wei­ter.

      Aga­the lach­te ver­ächt­lich. Dann ging sie mit der Bür­ger­schü­le­rin, die schon um zwölf Uhr zu Mit­tag ge­ges­sen hat­te, trank mit ihr Kaf­fee und ver­such­te mit ihr im Hof das tie­fe Loch zu gra­ben, das nach Ame­ri­ka füh­ren soll­te. Ach – wenn es wirk­lich wahr wäre!! Sie müh­ten sich ganz ent­setz­lich, nur erst den Kies und die Erde fort­zu­brin­gen. Dann tra­fen sie zu ih­rem gren­zen­lo­sen Er­stau­nen auf rote Zie­gel­stei­ne. Es wur­de Aga­the ganz selt­sam zu Mut, so, als müs­se jetzt ein Wun­der ge­sche­hen – weiß Gott, was sie nun se­hen wür­den. Mit al­ler Ge­walt such­ten sie die Zie­gel­stei­ne los­zu­bre­chen, schwitz­ten und stöhn­ten da­bei. Und als der eine sich eben schon ein we­nig be­weg­te – da kam je­mand. Das an­de­re Mäd­chen schrie laut auf vor Schre­cken: »Hu – die schwar­ze Jule! Die schwar­ze Jule!«

      Hei­di jag­te sie fort und Aga­the hin­ter­drein. Wäh­rend die Haus­wir­tin ins Lee­re über ih­ren ver­wüs­te­ten Hof keif­te, steck­ten bei­de klei­ne Mäd­chen im Holz­stall und reg­ten und rühr­ten sich nicht vor Angst.

      Aber das Nach­hau­se­kom­men …! Sie muss­te doch ein­mal – es wur­de schon dun­kel – in der Nacht hät­te sie sich auf der Stra­ße tot­ge­fürch­tet. Es gab auch Mör­der da. Sie muss­te schon. »Ach Gott! Ach lie­ber Gott, lass doch Mama in Ge­sell­schaft sein!«

      Er war ja so gut – viel­leicht tat er ihr den Ge­fal­len.

      Frau Heid­ling hat­te in­zwi­schen zu Wu­trows ge­schickt, ob Aga­the bei ih­nen ge­we­sen wäre.

      Nein – sie hät­te auf dem Ka­ser­nen­plat­ze ge­ses­sen und mit den Bei­nen ge­bau­melt.

      Aga­the hat­te jetzt al­les ver­ges­sen, was sie am Mor­gen ge­quält. Sie emp­fand nur noch eine große Furcht vor ih­rer Mut­ter, wie vor et­was schreck­lich Er­ha­be­nen, vor dem sie nur ein klei­nes Würm­chen war. Und da­bei misch­te sich auch eine be­stimm­te Sehn­sucht in die große Angst. Vi­el­leicht dach­te ihre Mut­ter, sie hät­te bei Wu­trows ge­spielt, und al­les war gut.

      Als sie zag­haft und ganz lei­se klin­gel­te, riss Wal­ter die Tür auf, lach­te laut und rief: »Da ist sie ja, die Ran­ge!«

      Ihre Mut­ter nahm sie bei der Hand und führ­te sie in die Lo­gier­stu­be. Dort ließ sie sie im Dun­keln ste­hen.

      Mama wür­de doch nicht? Nein – sie war ja schon ein großes Mäd­chen, dach­te Aga­the und fror vor Angst – nein, das konn­te Mama doch nicht … Sie ging doch schon in die Schu­le …

      Frau Heid­ling kam mit ei­nem Licht und mit der Rute wie­der.

      »Nein! Nein! Ach bit­te, bit­te nicht!« schrie Aga­the und schlug wie ra­send um sich. Es war ein wil­der Kampf zwi­schen Mut­ter und Toch­ter, Aga­the riss Mama die Spit­zen vom Klei­de und trat nach ihr. Aber sie be­kam doch ihre Schlä­ge – wie ein ganz klei­nes Kind.

      Als die schau­er­li­che Stra­fe zu Ende war, wank­te Frau Heid­ling er­schöpft in ihr Schlaf­zim­mer und sank keu­chend und wei­nend auf ihr Bett nie­der. Sie wuss­te, dass sie sich nicht auf­re­gen durf­te, und dass sie furcht­ba­re Ner­ven­schmer­zen aus­zu­ste­hen ha­ben wür­de. Bis zu­letzt, wäh­rend der Sor­ge und Angst um Aga­the hat­te sie ge­prüft ob sie es tun müs­se. Ja, es war ihre Pf­licht. Das Kind durf­te sich nicht so über alle Au­to­ri­tät hin­weg­set­zen. Als sie Aga­the sah, hat­te auch der Zorn sie über­mannt.

      Das Mäd­chen lag in der Lo­gier­stu­be auf den Die­len und schrie noch im­mer, schlu­ckend und schluch­zend, sie konn­te die Töne nur noch hei­ser her­vor­sto­ßen, und ihr gan­zer klei­ner Leib zuck­te krampf­haft da­bei. Sie woll­te sich tot­schrei­en. Mit ei­ner sol­chen Schmach auf sich konn­te sie doch nicht mehr le­ben …! Was wür­de Papa sa­gen? Ihm wür­de es wohl leid tun, wenn er sein klei­nes Mäd­chen nicht mehr hät­te. Aber Mama – der war es ganz recht – ganz recht …

      End­lich wur­de sie so müde, dass al­les um sie her und in ihr ver­schwamm. Mit wüs­tem Kopf stand sie auf und kroch tau­melnd in ihr Bett.

      *

      Aga­the hat­te ihre Mut­ter nicht mehr lieb. Heim­lich trug sie die Ge­wis­sens­not und den Schmerz dar­über – eine zu schwe­re Bür­de für ihre Kin­der­schul­tern. Ihre Hal­tung wur­de schlaff, in ih­rem Ge­sicht­chen zeig­te sich ein ver­drieß­li­cher, mü­der Zug. Aber der Arzt, den man be­frag­te, mein­te, das käme von dem ge­bück­ten Sit­zen auf der Schul­bank.

      Ei­ni­ge Zeit spä­ter wur­de Aga­thes Va­ter als Ver­tre­ter des Lan­drats in eine klei­ne­re Stadt ver­setzt. Hier gab es kei­ne hö­he­re Töchter­schu­le und Aga­the be­kam eine Gou­ver­nan­te.

      All­mäh­lich er­hol­te sie sich und wur­de wie­der mun­ter. Wahr­schein­lich ver­hielt sich al­les gar nicht so, wie Eu­ge­nie ge­sagt hat­te, dach­te sie nun. Weil es ihr zu un­mög­lich er­schi­en, ver­gaß sie ihre ver­wor­re­ne Weis­heit zu­letzt so ziem­lich. Nur hin und wie­der durch ein Wort von Er­wach­se­nen, eine Stel­le in ei­nem Buch, durch ein Bild ge­weckt, zu­wei­len ohne jede Ver­an­las­sung wach­te die Erin­ne­rung an die Stun­den in Wu­trows Gar­ten und in den dunklen Kor­ri­do­ren in ih­rem Ge­dächt­nis auf und quäl­te sie wie ein schlech­ter Ge­ruch, den man nicht los wird, oder wie die Mit­wis­ser­schaft ei­nes trü­ben, ver­häng­nis­vol­len Ge­heim­nis­ses.

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