Название: Gabriele Reuter – Gesammelte Werke
Автор: Gabriele Reuter
Издательство: Bookwire
Жанр: Языкознание
Серия: Gesammelte Werke bei Null Papier
isbn: 9783962814076
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»Ich will auch hin!«
»Ja – ein Stuhl steht in einer Ecke vom Flur. Du musst darauf steigen. Warte erst noch, damit die Miss nichts merkt.«
In Furcht und Grauen schlich Agathe durch die dunklen Korridore des großen Hauses, eine Treppe hinab, eine andere hinauf, bis sie an das abgelegene Zimmer des Seitenflügels kam, wo der Sarg mit der jungen Elsbeth stand.
Ein kühler Wind strich durch das Fenster und bewegte ihr Haar, als sie den Vorhang hob, ein merkwürdig schauerlicher Duft wehte ihr entgegen, die Lampe, die auf einem Tisch zur Seite brannte, warf einen klaren Schein gerade auf das Gesicht der Toten und auf die wächsernen Hände, die über der Brust gefaltet lagen.
Als Agathe das ruhige, weiße Antlitz mit den geschlossenen Augen unter dem Schmuck des grünen Myrthenkranzes erblickte, wich ihre krankhafte Erregung und es wurde sehr still in ihr. Sie senkte den kleinen Vorhang und stieg mit schönen feierlichen Gefühlen wieder hinab. Sie faltete die Hände und lehnte sich gegen die Mauer.
»Lieber Gott, lass mich auch sterben«, betete sie. Das Leben, auf das sie sich so freute, schien ihr wertlos im Vergleich zu dieser Ruhe. An Auferstehung dachte sie nicht. Sie wäre gern in dem Augenblick vergangen – im Nichts verschmolzen, doch ohne sich darüber klar zu werden. – – Die Traurigkeit und Todessehnsucht hielt lange bei ihr an. Auch als Eugenie sich ihr wieder näherte, machte sie das nicht mehr glücklich.
IV.
Sommerferien auf dem Lande … Schwebt nicht ein Duft von Rosen und Erdbeeren vorüber? Schäumende Milch, frisch aus dem Kuhstall! – Körbe voll schwarzer und gelb-rot glänzender Kirschen! – Kuchen, halb so groß wie der Tisch, mit einer dicken Butter- und Zuckerkruste – Honigscheiben, die vor neugierigen Augen dem Bienenstock entnommen werden … Und Sonne – Sonne – Sonne!!
Fahrten durch die Felder, denen der kräftige Geruch des reifenden Kornes entströmt, durch Wälder, wo kleine braune Rehe eilig und furchtsam hinter fernen Baumstämmen hervoräugen. Auf offenem Ponywägelchen Vettern und Cousinen zusammengerüttelt und geschüttelt und überströmt von des Himmels unverhofft niederrauschendem Gewitterregen. Triefende Haarschöpfe und verdorbene Sommerhüte und selige, fröhliche, glühende, junge Gesichter!
Und liebes, heimliches Beieinanderhocken auf kleinen Ecksofas im Schatten altertümlich geschnitzter Schränke, so brüderlich und schwesterlich – und doch nicht ganz Bruder und Schwester …
Das fanatische Krokettspielen auf dem großen Platz vor dem Hause – oft noch eine Revanche-Partie im Stockfinstern, bei der mangelhaften Beleuchtung einer Stalllaterne, die von den galanten Vettern von Reifen zu Reifen getragen wird.
Das Tanzen zu der Begleitung einer gepfiffenen Polka durch den weiten, leeren Festsaal mit den Familienbildern aus der Empire- und Biedermannszeit. – Onkels und Tanten als wunderlich geputzte Kinder, welche Kaninchen und weiße Tauben in den Händen halten und von den Wänden herab dem Tollen einer neuen Jugend feierlich lächelnd zuschauen.
Und vor allem die große Mittagstafel, bei der zuletzt von Onkel August ein Gesetz erlassen werden musste: »Hier wird gegessen, nicht gelacht.«
Aber dann hätte man den Vettern und Cousinen auch verbieten müssen, zu sprechen, zu blicken, sich zu bewegen. Was war denn nur fortwährend so unsäglich komisch?
Agathes und Martins gemeinsames Schwärmen? und die nüchternen Bemerkungen, welche Cousine Mimi dazwischen warf? Die zierlichen Redewendungen der Kadetten, der Söhne von Onkel August Bär, oder die unnatürlich tiefe, pathetische Stimme, in der Agathes Bruder sich seit kurzem gefiel?
Man musste eben lachen über alles und über gar nichts – den ganzen Tag lachen, bis man fast vom Stuhle fiel, bis die Mädchen mit tränenüberströmten Wangen und den seltsamsten Lachseufzern gegeneinander taumelten und die großen Jungen vor Vergnügen brüllten, sich auf die Schenkel schlugen und wie vom Veitstanz ergriffen in der Stube herumsprangen.
Das zweck- und ziellose Herumjagen in dem schönen Park, das lichttrunkene Träumen im Baumschatten zur Zeit der heißen Mittagsstunden – die weisen Gespräche, das ernsthafte und eifrige Streiten über alle Weltfragen, von denen man nichts verstand! Aber war das töricht! Ach, war das alles gesund und gut und schön! Jugend, Leben, Kraft- und Frohsinns-Überfülle.
Agathe schrieb einmal einen langen Brief an Eugenie, in dem sie eine glühende Schilderung von den köstlichen Ferien in Bornau bei Onkel August Bär entwarf. Martins Name kam fast in jedem Satze vor, aber doch nur in den harmlosesten Beziehungen.
Dass der unausstehliche, komische Junge Agathe ein Strähnchen grüner Wolle, das sie notwendig zu ihrer Stickerei brauchte, gestohlen hatte, schrieb sie nicht. Auch schwieg sie von der furchtbaren Aufregung, in die er Agathchen versetzte, wenn er in Gegenwart der ehrwürdigsten Tanten, der moquantesten Onkels, von Mama und Großmama das Wollensträhnchen mit frecher Gelassenheit aus der Brusttasche seiner grauen Sommerjacke hervorzog, es um seine Finger wickelte, es verräterisch hin- und herschlenkerte, und Agathes Verlegenheit und Zorn aufs Höchste steigerte, indem er das Andenken – allerdings mit entsprechenden Vorsichtsmaßregeln, er ging nämlich dazu in die Fensternische – an sein Herz und seine Lippen drückte. Und niemals hätte sie sich entschließen können, Eugenie zu erzählen, dass der kühne Bursche einmal, als sie beide allein im Zimmer waren, neben dem Stuhl, auf dem sie saß, niederkniete und sagte, er wolle hier liegen bleiben, bis sie ihm einen Kuss geben würde, und es kümmere ihn gar nicht, wenn jemand hereinkäme und es sähe – wenn sie sich so lange zieren wollte, wäre es eben ihre Schuld!
Agathe hatte ihn darauf von sich gestoßen, war aufgesprungen und fortgelaufen, die Treppe hinunter. Sie hörte Martin hinter sich, drei Stufen auf einmal überspringend und floh durch das eiserne Gittertor, das sie kräftig zuwarf. So jagten sie sich eine Viertelstunde lang um die Linde durch den Hof und um die Ställe herum, bis die Mittagsglocke läutete. Er hatte sie nicht gefangen, niemals war sie so leichtfüßig gewesen. Vielleicht hatte СКАЧАТЬ