Название: Gabriele Reuter – Gesammelte Werke
Автор: Gabriele Reuter
Издательство: Bookwire
Жанр: Языкознание
Серия: Gesammelte Werke bei Null Papier
isbn: 9783962814076
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Herweghs Gedichte. – – Und die Sommerferien bei Onkel August in Bornau – der sonnenbeschienene Rasen, auf dem sie gelegen und für die glühenden Verse geschwärmt hatte, die Martin so prachtvoll deklamieren konnte … Wie sie sich mit ihm begeisterte für Freiheit und Barrikadenkämpfe und rote Mützen – für Danton und Robert Blum … Agathe schwärmte dazwischen auch für Barbarossa und sein endliches Erwachen …
Sie hatte Martin seitdem noch nicht wiedergesehen. Er diente jetzt sein Jahr. Ach, der gute, liebe Junge.
Agathe war zu beschäftigt, das Buch aufzuschlagen und ihre Lieblingsstellen nachzulesen, um zu bemerken, dass eine peinliche Stille am Tische entstanden war.
Als sie emporsah, begegnete ihr Blick dem von verhaltenem Lachen ins Breite gezogenen Gesicht von Onkel Gustav, der sich eifrig mit dem Öffnen einer Champagnerflasche beschäftigte. Pastor Kandler stand auf, ging schweigend um den Tisch herum und nahm ihr den Herwegh aus der Hand. Er trat zu dem Regierungsrat und zeigte ihm hier und da eine Stelle. Beide Herren machten ernste Mienen. Es lag etwas Unangenehmes in der Luft.
»Dass der Bengel noch so dumm wäre, hätte ich ihm doch nicht zugetraut«, brach der Regierungsrat ärgerlich los.
»Mein liebes Kind«, sagte Pastor Kandler beschwichtigend zu Agathe, »ich denke, wir heben Dir das Buch auf und bitten Vetter Martin, es gegen ein anderes umzutauschen. Es gibt ja so viele schöne Lieder, die für junge Mädchen geeigneter sind und Dir besser gefallen werden.«
Agathe war ganz blass geworden.
»Ich hatte mir Herweghs Gedichte gewünscht«, stieß sie ehrlich heraus.
»Du kanntest wohl das Buch nicht?« fragte ihr Vater mit derselben beängstigenden Milde, die des Pastors Vorschlag begleitete. Man wollte sie an ihrem Konfirmationstage schonen, aber es war sicher – sie hatte etwas Schreckliches getan!
»Doch!« sagte sie eilig und leise und setzte noch schüchterner hinzu: »Ich fand sie schön!«
»Du wirst einige gekannt haben«, entschuldigte Pastor Kandler. Sein Blick haftete eindringlich auf ihr. Sollte das sanfte Kind ihn mit ihrer innigen Hingabe an das Christentum getäuscht haben? Woher plötzlich dieser Geist des Aufruhrs?
»Was gefiel Dir denn besonders an diesen Gedichten?« prüfte er vorsichtig.
»Die Sprache ist so wunderschön«, flüsterte das Mädchen verlegen.
»Hast Du Dir nie klar gemacht, dass diese Verse mit manchem, was ich Dich zu lehren versuchte, in Widerspruch stehen?«
»Nein – ich dachte, man sollte für seine Überzeugung kämpfen und sterben!«
»Gewiss, mein Kind, für eine gute Überzeugung. Aber für eine törichte, verderbliche Überzeugung soll man doch wohl nicht kämpfen?«
Agathe schwieg verwirrt.
Vater und Seelsorger sprachen miteinander.
»Das sind doch besorgliche Symptome«, sagte der Regierungsrat. »Ich verstehe meinen Neffen absolut nicht! In des Königs Rock! Geradezu unerhört!«
»Ich glaube, wir brauchen die Sache nicht so ernst zu nehmen«, meinte Pastor Kandler, mit seinem stillen, ironischen Lächeln den Regierungsrat betrachtend. »Die Jugend hat ja schwache Stunden, wo ein berauschendes Gift wohl eine Wirkung tut, die bei gesunder Veranlagung schnell vorübergeht. Das wissen wir ja alle aus Erfahrung!« Er legte das anstößige Buch beiseite und ging auf seinen Platz zurück.
»Wäre den Herrschaften nicht ein Stückchen Torte gefällig?« fragte die Pastorin freundlich.
Onkel Gustav ließ von einer Champagnerflasche, die er mit weitläufiger Feierlichkeit behandelte, weil sie seine Beisteuer zum Feste war, den Pfropfen mit einem Knall in die darüber gehaltene Gabel springen. Die beiden Pastorsjungen jauchzten über das Kunststück, der schäumende Wein floss in die Gläser, man erhob sich und stieß an. Der Schatten, den die blutdürstige Revolutionslust der Konfirmandin auf die Gesellschaft geworfen, war der alten, stillbewegten Heiterkeit gewichen. Nur in Agathes braunen Augen war noch etwas Sinnendes zurückgeblieben. Onkel Gustav klopfte dem Nichtchen begütigend die volle Wange und rief dabei mit seinem jovialen Lachen:
»Vorläufig doch mehr Blüte als Wurzel!«
Dann flüsterte er Agathe ins Ohr: »Dummes Ding – Geschenke von netten Vettern packt man doch nicht vor versammelter Tischgesellschaft aus!«
Leider war Onkel Gustav selber ein Familienschatten. Er hatte keine Grundsätze und brachte es deshalb auch zu nichts Rechtem in der Welt. So heiratete er z. B. eine Frau, die allerlei Abenteuer erlebt hatte und sich schließlich von einem Grafen entführen ließ. Das mochten ihm die Verwandten nicht verzeihen. Agathe hatte ihn trotzdem lieb. Er war so gut; bot sich die Gelegenheit, einem Menschen in kleinen oder großen Dingen zu helfen, so fand man ihn gewiss bereit. Was er sagte, konnte freilich nicht sehr ins Gewicht fallen. Agathe blieb nachdenklich.
»Alles ist Euer«, war ihr eben versichert worden, und gleich darauf nahm man ihr das Geschenk ihres liebsten Vetters fort, ohne sie auch nur zu fragen. Widerspruch wagte sie natürlich nicht. Sie hatte ja Gehorsam und demütige Unterwerfung gelobt für das ganze Leben.
*
Später, als die Erwachsenen in allen Sofaecken des Pfarrhauses ihr Verdauungsschläfchen hielten – man war ein bisschen heiß und müde geworden von dem reichlichen Mittagsmahl und dem Champagner – ging Agathe den breiten Gartenweg hinter dem Hause auf und nieder. Die Jungen hatten den Befehl erhalten, sie heute nicht zu stören und zum Spielen zu holen, wie sonst. Sie machten mit Walter einen Spaziergang. Die Pastorin half, ungesehen von den Gästen, der Magd in der Küche beim Tellerwaschen; von dorther tönte bisweilen ein Geklapper, sonst herrschte Stille in Hof und Garten. Agathe hörte mit heimlichem Vergnügen ihre seidene Schleppe über den Kies rauschen, СКАЧАТЬ