Aufgang. Jahrbuch für Denken, Dichten, Kunst. Heinrich Beck, Barbara Bräutigam, Christian Dries, Silja Graupe, Anna Grear, Klaus Haack, Rüdiger Haas, Micha
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СКАЧАТЬ Die kommen auch nicht wieder. Die Schmetterlinge im gerundeten Bauch sind träge geworden. Schlaflose Nächte haben nicht mehr die Ursachen der jungen Jahre. Die Muskeln verweigern den Berg und freuen sich auf ebene Wege. Sie „katern“ schon bei wenig Sport. Die Sehnen sind verkürzt, die Adern enger. Die Gelenke ächzen, schmerzen schon bei kleinen Biegewinkeln. Das Fahrrad hängt an der Steckdose. Der Atem wird kürzer, der Lift zur Regel. Die Essensportionen in den Gaststätten kommen zu groß aus der Küche. Auch ist die erregende Zeit längst vorbei, in der ein Blick in die Augen einer Frau gelegentlich eine Reaktion sichtbar werden ließ. Die Jungen sagen sowieso, wenn sie nett zu mir sein wollen, Opa, wenn nicht, dann nennen sie mich einen alten Sack.

      Da stellt sich mir auf einmal dringend die Frage, was ich tun muss, tun kann und tun werde, wie ich die letzte Phase meines Lebens gestalten soll, will und kann, in dem sicheren Wissen, dass der verbliebene Rest, mit an Unsicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit, nicht mehr sehr lang sein wird. Oder soll ich gleich resignieren? Goethe meinte ja, dass man jung sein müsse, um große Dinge zu tun.

      In der berühmten Schrift des antiken Dichters und Philosophen Lucius Annaeus Seneca De brevitate vitae können wir lesen:

      Beim Lesen dieser Gedanken stelle ich fest, dass auch ich, zwar nicht zu den hoch angesehenen Männern, aber zu dem „großen Haufen“ gehöre und immer öfter über dieses Übel jammere. Was läuft da schief? Was mache ich falsch? Seneca meinte dazu:

      Ich hätte es mir denken können. Was schon im alten Rom nicht richtig erfolgreich war, wie sollte es mir gelingen. Aber ist es denn schon zu spät? Oder reicht es noch für herrliche Taten? Naja, die Lebenszeit, mit der ich zu oft verschwenderisch umgegangen bin, im jugendlichen Irrtum befangen ewig zu leben, lässt sich nicht zurückholen und ein Reset-Button ist nicht vorgesehen. Der Philosoph hatte recht, wenn er meinte, dass die Natur sich als gütig erwiesen habe und das Leben lang sei, wenn man es recht zu brauchen wüsste. Und dank der modernen Medizin und ihren gesunderhaltenden und regenerierenden Techniken wird es ja eher länger, sagen die Leute. Nur statistisch betrachtet natürlich. Ganz zu schweigen von den Nahrungsergänzungsmitteln mit den hoch dosierten Vitaminen und Mineralstoffen, die mir immer wieder schwärmend und werbend empfohlen werden, von Bekannten, die sich durch den Vertrieb dieser Wundermittel mit satten Erfolgsprämien nur ihre Rente aufbessern wollen.

      Also jetzt aufgepasst! Es herrscht absoluter Änderungsbedarf. Aber was muss ich ändern? Was soll ich tun, damit die Spanne Lebens, die mir noch bleibt, ein wahres Leben ist und nicht bloße Zeit, die aus der Wanduhr tropft? Zeit, in der die Erwartungen mehr und mehr schrumpfen und die Erinnerungen wachsen …

      Zunächst einmal, vor allen euphorischen Plänen, muss ich Dank sagen. Dank dafür, dass ich die Krisen meines Lebens mit Hilfe meiner Lebenspartnerin so gut bewältigen konnte. Natürlich haben sie tiefe Narben hinterlassen, die gelegentlich noch schmerzen. Dank auch meinen Eltern für ihre Erziehung und die meist unbeschwerte Jugend. Dank, dass ich die strenge katholische Unterweisung mit ihren hohen Ansprüchen an ein Leben ohne lässliche, schwere oder gar Todsünden in Gedanken, Worten und Werken, unter Strafandrohung mit Fege- und Höllenfeuer, mit ertragbaren seelischen Blessuren überstanden habe. Dank meinen Ausbildern, Lehrern und Dozenten, dass sie mir meinen Hürdenlauf der Bildung erleichtert haben. Dank den Vorgesetzten, den guten nur, den Ärzten, auch nur den guten, und all den vielen Helfern, die für mich tätig waren. Dank auch für alle die Menschen und Freunde, die mich liebevoll begleitet haben. Dank für die Möglichkeit, das Leben im Alter nicht in Armut verbringen zu müssen, ein Heim zu haben und andere Menschen unterstützen zu können. Und, und, und …

      Und jetzt sofort an die Planung der herrlichen Taten.

      Eines ist sicher, den roten Sportwagen kaufe ich mir nicht. Obwohl dieser 911 Speedster ein Jugendtraum war. Aber deine Bandscheiben, deine Gelenke, unkt wieder der Pessimist, die machen das ja nicht mehr mit, vom Ein- und Aussteigen nicht zu reden. Und es sieht doch lächerlich aus und macht dich auch nicht jünger. Komisch, aber der Optimist gibt ihm, in seltener Einigkeit, diesmal recht. Das rote Modell auf meinem Schreibtisch muss genügen.

      Nein, das also nicht, aber Bücher. Ohne Bücher will ich nicht leben. Sie sind für mich ein unentbehrliches Mittel, mich aus der Endphase meines Erdendaseins zu entführen, wenn die Phantasie allein nicht mehr ausreicht, die von der Festplatte in meinem Hirn aus der Vergangenheit versorgt wird.

      Auch die Kunst möchte ich keinesfalls missen, die Dichtung, die Musik, die Malerei, die Vorträge, Theater, Konzerte, Opern, Galerien …

      Die Geschichte, Altertum, Mittelalter, Neuzeit soll im Blickpunkt meines Interesses bleiben. Die Werke der Romanik, Gotik, Renaissance, des Barock und Rokoko ganz sicher.

      Nicht zu vergessen die Natur im Wandel der Landschaften und Jahreszeiten, die Blumen, die Bäume, die Tiere, die Berge, die Wälder, Wiesen und Seen …

      Besondere Bedeutung aber kommt der Begegnung mit den lieben Menschen zu, die mich noch auf meiner kürzer werdenden Wanderung begleiten, die mitmachen bei meinem Altwerden. Der Austausch von Gedanken, Gespräche, ernste, lustige, witzige, streitbare, interessante Diskussionen, gegenseitige empathische Anteilnahme, Hilfe und Trost in der Not werden helfen, diesen Weg solange wie möglich gemeinsam nach vorne zu gehen.

      Aber jetzt nur nicht in Hektik verfallen, in der neuen Euphorie nicht übertreiben. Auch im Müßiggang kann Weisheit liegen, verspricht zumindest Robert Louis Stephenson. Ruhig, bedacht und ohne Stress die richtige Auswahl treffen. Mit dem goldgleichen Gut Zeit nicht mehr so verschwenderisch umgehen, besser so wie der Philosoph und Grabredner Søren Kierkegaard empfiehlt: „Es gilt jeden Tag zu leben, als wäre er der letzte.“

      Das Wichtigste jedoch in diesem letzten, auch von manischen und depressiven Tagen gekennzeichneten Abschnitt meines Lebens, ist für mich, dass ich ihn möglichst lange gemeinsam mit meiner lieben Frau gehen kann. Denn ich weiß, es wird einsam werden auf den letzten Schritten. Dann werde ich wieder die Stille hören und frieren, dann, wenn meine Freunde alle gegangen sind. So wie Mephisto es mir prophezeit hat.

      Oh, jetzt hätte ich beinahe das Wichtigste vergessen, das, worüber ich heute noch so ungern etwas hören will, den Tod. Nicht nur meinen eigenen.

      Ich möchte hier den griechischen Philosophen СКАЧАТЬ