Größer als der Schmerz. Alex Tresniowski
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Название: Größer als der Schmerz

Автор: Alex Tresniowski

Издательство: Bookwire

Жанр: Философия

Серия:

isbn: 9783961223299

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СКАЧАТЬ style="font-size:15px;">      Der Bewaffnete drehte sich zu ihm um und richtete das Gewehr auf ihn.

      Lou sah auf und bemerkte den Mann mit der Waffe, doch zuerst schien es ihn gar nicht zu beunruhigen. Noch immer hatte er sein breites Lächeln auf dem Gesicht. Vielleicht war sein erster Gedanke auch – so wie bei mir –, dass es sich um einen Scherz handelte. Er blieb stehen und der Bewaffnete brüllte erneut dieselben Worte:

      „Das ist kein Scherz!“, rief er. „Das passiert wirklich!“ Und er stieß mit seinem Gewehr in Lous Richtung, um seine Aussage zu untermauern.

      Lou erstarrte. Bevor irgendetwas anderes passieren konnte, machte ich den Mund auf. „Lou, komm zu mir hinter die Theke“, sagte ich und winkte ihn zu mir.

      Aus irgendeinem Grund beeilte sich Lou nicht. Er lief langsam, als wäre er noch immer nicht sicher, dass das hier tatsächlich passierte. Da war überhaupt keine Eile in seinen Bewegungen, es schien fast, als würde er bummeln. Ich aber wollte, dass er schnell hinter die Theke kam, damit er nicht mehr so ungeschützt war und damit der Bewaffnete nicht noch wütender wurde.

      Doch dafür war es zu spät.

      Denn bevor Lou es hinter die Theke schaffte, griff der Bewaffnete seine Kalaschnikow fester und feuerte. Der Lärm war ohrenbetäubend. Das Schießen hatte begonnen.

      ***

      Wenn du klein bist und deine Mutter zu einer Kirchengemeinde gehört, dann verbringst du jede Menge Zeit in der Kirche. Meine Mutter nahm uns regelmäßig mit in die baptistische Kirche, und sie erweckte gegenüber uns den Anschein, dass dort immer etwas los war. Es gab: einen Morgengottesdienst, einen Abendgottesdienst, Geflügel zum Abendessen, eine Ferienbibelschule, diverse Aktionen und Veranstaltungen sowie Versammlungen und Chorstunden und natürlich den Kindergottesdienst. Im Grunde war die Kirche dein Zuhause, wenn du nicht zu Hause warst. Ich hatte nichts dagegen, dorthin zu gehen. Meistens gefiel es mir dort auch gut, doch ich kann nicht sagen, ich wäre mit Leidenschaft dabei gewesen. Jedenfalls nicht so wie mein älterer Bruder Timmy.

      Timmy stand wirklich auf Gott. Als Kind war ich eher damit beschäftigt, mit meinen Freundinnen zu spielen, als mir viele Gedanken über die Worte der Bibel zu machen. Timmy aber studierte sie genau, und mehr noch: Er setzte in die Tat um, was er las. Als Teenager beispielsweise fastete er sogar vierzig Tage lang, so wie Jesus es in der Wüste tat.

      Mein anderer Bruder John und ich konnten einfach nicht verstehen, warum er das tat, aber unsere Skepsis kümmerte ihn nicht im Geringsten. Er sagte zu uns: „Ihr kommt alle in die Hölle.“

      Die Kirche hörte niemals auf, unser Zuhause zu sein, wenn wir nicht zu Hause waren. Und für eine lange Zeit war sie sogar buchstäblich unser Zuhause.

      Nachdem ich meinem Vater gesagt hatte, dass ich auf sein Grab spucken würde und ich wieder zu meiner Mama gereist war, um bei ihr zu bleiben, begann für uns eine lange Reise, auf der wir nichts hatten außer der Gnade Gottes, die uns führte. Nach dem Verlust unserer Mietwohnung in dem Stadthaus brachte Mama ihre Habseligkeiten in einem Lager unter, und wir beide zogen bei ihrer Freundin Connie ein. Connie hatte eine Wohnung mit drei Schlafzimmern im Nordosten von Washington, DC. Sie lebte mit ihrer Tochter Cheralyn und ihren Zwillingen Melvin und Kelvin dort, die ungefähr in meinem Alter waren. Wir blieben ein paar Monate dort, ehe wir zu einer anderen Freundin zogen. Danach zogen wir wieder um, dann noch mal und noch mal und ...

      In etwas weniger als einem Jahr sind Mama und ich vierzehn Mal umgezogen. Manchmal wohnten wir bei Freunden, manchmal bei Fremden, die auch zu unserer Gemeinde gehörten. Manchmal hatte ich sogar ein eigenes Bett, doch meist schlief ich auf dem Sofa oder dem Fußboden. Wo wir auch hingingen, nahmen wir die uns entgegengebrachte Gastfreundschaft in Anspruch. Meistens zu lange. Wir packten ständig zusammen und zogen weiter. So muss es sich wohl anfühlen, obdachlos zu sein. Zwar lebten wir nicht auf der Straße, aber wir hatten auch kein Dach über dem Kopf, das wir unser Eigen nennen konnten.

      Manchmal war ich auch der Grund, wieso wir eine Bleibe verlassen mussten. Ich hatte Ihnen ja schon gesagt, dass ich ein freches Mundwerk hatte und so ziemlich alles von mir gab, was mir so in den Sinn kam. Na ja, nicht jeder wusste meine Ehrlichkeit zu schätzen oder meine mangelnde Bereitschaft, herumkommandiert zu werden. „Du hast es schon wieder getan“, sagte Mama dann. „Es ist Zeit für uns zu gehen.“ Also mussten wir wieder woanders hinziehen, wo man uns auch nicht wirklich wollte.

      Nie war es irgendwo besser gewesen als bei Connie zu Hause. Sie bereitete die beste Hühnerleber zu und ich kam wirklich gut mit ihren Kindern aus. Das hatte auch einen Grund: Ich war nämlich in ihren Sohn Melvin verliebt. Zur gleichen Zeit interessierte ich mich aber auch für einen Jungen namens Tony, den ich aus der Nachbarschaft kannte. Tony war meine erste große Liebe gewesen – na ja, Jugendliebe, aber trotzdem. Also hatte ich Tony und Melvin um mich herum, doch ich hatte überhaupt keine Zeit für diesen anderen, dritten Jungen, der immer zum Abendessen zu Connie kam und mich ständig anstarrte, mich gerne ärgerte und mir überallhin folgte, und der eines Tages an Connies Küchentisch mir gegenübersaß und zu weinen anfing und immer wieder sagte: „Antoinette, ich liebe dich und ich will mit dir zusammen sein.“

      Sein Name war Terry, er war mit Melvin und Kelvin befreundet. Als ich ihn kennenlernte, war er siebzehn, vier Jahre älter als ich. Er hatte ein süßes, fröhliches Lächeln und eine aufmerksame Art, sodass man den Eindruck hatte, dass er einem wirklich zuhört. Anfangs habe ich ihn fast immer ignoriert, doch das konnte ihn nicht bremsen. Er kam fast jeden Abend zum Essen. Danach blieb er einfach da und wich mir kaum von der Seite. An manchen Tagen musste ich unsere Wäsche in einen nahe gelegenen Waschsalon tragen, selbst dann tauchte Terry auf und begleitete mich dorthin. Er wartete sogar, um mich wieder nach Hause zu begleiten. An anderen Tagen kam er zu Connies Wohnung und fragte mich, ob ich mit ihm Ball spiele oder einfach nur so Zeit verbringen möchte.

      „Willst du ins Kino gehen?“, fragte er mich eines Tages. Ich bekam tatsächlich ein bisschen Geld von Mama und wir gingen ins Kino. Nur wir beide.

      „Willst du zu McDonalds?“, fragte er an einem anderen Tag. Also gingen wir zu McDonalds und teilten uns ein Kindermenü, weil unser Geld nur für eins reichte. Bevor wir obdachlos wurden, meldete Mama mich an einer Schule in Virginia an, auf die Kinder aller Hautfarben gingen. Aber als wir bei Connie wohnten, brachte Mama mich zum ersten Mal in meinem Leben in eine Schule nur für Schwarze. Es war kein schöner Ort und es gab dort eine Menge Raufereien. Um ehrlich zu sein: Ich hatte dort an den meisten Tagen Angst. Das erzählte ich Terry, und er begann, mich morgens in die Schule zu begleiten, und er tauchte auch nachmittags wieder auf, um mich nach Hause zu bringen. Manchmal lungerte er den ganzen Tag über nahe der Schule herum und warf auf dem Basketballplatz ein paar Körbe, während er auf mich wartete. Ich kann nicht sagen, dass Terry mich vor jeder Rauferei bewahrt hätte – auch ich hatte meinen Anteil an handfesten Auseinandersetzungen mit anderen Schülern –, aber er hat mich bestimmt vor einigen bewahrt.

      Für eine Weile traf ich mich auch weiterhin mit Tony, sogar als Terry ständig um mich herum war. Denn Tatsache war, dass ich nicht in Terry verliebt war. Wenn überhaupt, dann in Tony. Und das brachte Terry auf die Palme. Manchmal weinte er sogar, wenn ich ihm davon erzählte, dass ich Tony treffen werde.

      „Verstehst du nicht, dass ich dich liebe?“, sagte er.

      Es tat mir leid, ihn weinen zu sehen, doch das hielt mich nicht davon ab, Tony zu treffen. Selbst als Mama und ich bei Connie ausziehen mussten – ich weiß nicht mehr warum, wahrscheinlich wegen etwas, das ich gesagt hatte –, erschien Terry an der Tür jeder neuen Wohnung, in die wir anschließend zogen. Er war immer in der Nähe und wartete auf mich. Er widmete mir so viel Aufmerksamkeit, dass ich mich mit der Zeit daran gewöhnt hatte, ihn als Teil meines Lebens zu betrachten. Terry füllte irgendwie diese Lücke, die dadurch entstanden war, dass СКАЧАТЬ