Größer als der Schmerz. Alex Tresniowski
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Название: Größer als der Schmerz

Автор: Alex Tresniowski

Издательство: Bookwire

Жанр: Философия

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isbn: 9783961223299

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СКАЧАТЬ 911 an“, befahl der Bewaffnete. „Rufen Sie 911 an – und einen Nachrichtensender. Sagen Sie denen, dass ich zu schießen beginnen werde.“

      Ich nahm das Telefon und wählte 911 und wartete auf die Notrufleitstelle. Nach wenigen Sekunden meldete sich eine Frau.

      „Um was für einen Notfall handelt es sich bei Ihnen?“

      „Ja, guten Tag, ich bin in der Second Avenue in der Schule und hier ist ein bewaffneter Mann. Er sagt, er wird zu schießen anfangen.“

      „In Ordnung, bleiben Sie dran“, sagte die Frau am anderen Ende.

      „Lassen Sie niemanden ins Gebäude, auch nicht die Polizei“, sagte ich, und ich wiederholte es mit mehr Nachdruck: „Lassen Sie niemanden ins Gebäude, auch nicht die Polizei.“

      „Wo befinden Sie sich?“, fragte die Dame.

      „Ich bin an der Rezeption.“

      Bevor ich noch irgendetwas sagen konnte, sah ich den Bewaffneten, wie er einen der Kunststoffstühle hinter der Rezeption hervorholte, die Tür Richtung Eingang öffnete und den Stuhl so hinstellte, dass sie offen blieb. Danach ging er ein paar Schritte auf den Haupteingang der Schule zu. Von meinem Schreibtisch aus konnte ich sehen, wie er eine der Eingangsglastüren aufstieß. Dann sah ich, wie er sein Gewehr anlegte und nach draußen zielte.

      Er begann zu schießen.

      Ein Schuss, noch einer und immer mehr. Peng, peng, peng, peng. Es war so unglaublich laut – wie in einem Kriegsfilm. Ich hatte das Gefühl, nicht mehr atmen zu können.

      „Oh“, fuhr ich erschreckt am Telefon zusammen, „er ist gerade nach draußen gegangen und hat angefangen zu schießen.“

      Und dann, so als würde ich um Erlaubnis bitten, fragte ich: „Kann ich wegrennen?“

      „Können Sie an einen sicheren Ort gelangen?“, fragte die Leitstellentelefonistin.

      Ich fragte sie erneut, ob ich gehen oder ob ich bleiben sollte, weil der Bewaffnete mich sehen würde, wenn ich den Gang hinunterging und dann vielleicht das Feuer eröffnen könnte. Instinktiv stand ich auf. Nur ein paar Meter entfernt schoss der Bewaffnete noch immer. Ich behielt ihn im Blick. Das war meine Chance, durch die Hintertür hinauszulaufen, hoffentlich bevor er mich bemerkte und sein Gewehr auf mich richtete. Ich versuchte, meine Beine zu bewegen, doch nichts geschah. Ich versuchte es wieder, doch sie rührten sich einfach nicht. Jetzt oder nie. Wenn ich jetzt nicht wegrannte, bekäme ich vielleicht keine weitere Chance.

      Der Bewaffnete hörte auf zu schießen, kam zurück zur Rezeption und schlug die Tür hinter sich zu, schnaubend vor Wut.

      Ich stand noch immer an meinem Schreibtisch. Anscheinend sollte ich nicht wegrennen.

      ***

      Nachdem ich herausgefunden hatte, dass Terry meinen Verlobungsring dazu benutzt hatte, einer anderen Frau einen Antrag zu machen, hätte ich ihn auf der Stelle verlassen können. Doch das tat ich nicht. Denn in Wahrheit liebte ich Terry mehr als mich selbst. Sogar mehr, als ich Gott liebte. Ich konnte selbst nicht verstehen, wie das möglich war, doch es war so. Ich vergab Terry und blieb bei ihm.

      Anscheinend sollte ich da auch nicht wegrennen.

      Bitte verstehen Sie mich nicht falsch. Es war keineswegs so, dass ich diese Neuigkeiten gut aufgenommen hätte. Auf meinem Gesicht schmerzte die harte Ohrfeige des Betrugs. Und ich spürte das hässliche Gefühl, minderwertig zu sein, das sich dann einstellt, wenn man missachtet wird. Ich hatte diese Erfahrung schon einmal gemacht, denn ich fing erst an zu verstehen, wie groß die Wunde war, die mein Vater in meiner Kindheit verursacht hatte, nachdem er uns verlassen hatte. Und jetzt war da Terry, der womöglich das Gleiche tat. Der Anblick meines Rings am Finger einer anderen Frau löschte alles andere aus meinem Kopf. Ich konnte an nichts anderes denken als den Schmerz und die Qual, die ich empfand. Doch in mir war noch etwas anderes: Zorn. Ich fühlte mehr Zorn auf Terry als auf irgendjemand anderen, seit mein Vater mich mit einem Besenstil geschlagen hatte.

      Während der ersten Jahre unserer Partnerschaft war Terry mehr als einmal fremdgegangen, aber damals waren wir jünger, und ich wusste, dass er am Ende immer zu mir zurückkommen würde. Das tat er auch. Aber jetzt waren die Dinge anders. Wir waren Eltern. Nicht nur das: Er hatte mich öffentlich betrogen. Jeder außer mir wusste davon. Er hatte mich vor der ganzen Gemeinde blamiert. Ich dachte, ich hätte mehr Respekt verdient als das. Und ich war dabei, ihn nun einzufordern.

      „Jetzt reicht’s“, sagte ich zu Terry, als ich endlich unter vier Augen mit ihm sprechen konnte. „Genug ist genug. Entweder wir heiraten jetzt oder es ist vorbei.“

      Und Terry machte, was er immer machte: Er entschied sich für mich. Verstehen Sie, ich glaubte an Terry und ich glaubte an uns. Selbst wenn Terry das noch nicht tat, so war mein Glaube dennoch stark genug für uns beide. Mit meinem ganzen Sein glaubte ich, dass Terry ein guter Mann war, der mich immer gut behandeln würde, auch wenn er hin und wieder strauchelte. Es wäre mir nie in den Sinn gekommen, Terry zu verlassen. An seiner Seite war der einzige Platz in der Welt, wo ich sein wollte.

      Terry machte mit dem Mädchen aus dem Chor Schluss, doch als er etwas darüber erzählte, den Ring zurückzubekommen, erklärte ich ihm, dass ich diesen Ring nie wieder sehen wollte; sie konnte ihn behalten. Stattdessen gingen wir in den Juwelierladen und kauften zwei neue Ringe, einen für jeden von uns. Teure Ringe übrigens. Wir kauften sie mit einer kleinen Anzahlung und bezahlten sie in Raten über viele, viele Jahre ab. Aber ich glaubte, dass es das wert war, denn ich hatte vor, nur ein einziges Mal zu heiraten. Ich war dreiundzwanzig und ich kannte Terry jetzt seit zehn Jahren. Ich war mir absolut sicher, alle seine Dummheiten lägen nun hinter uns.

      Trotzdem weigerte sich die für unsere Hochzeit zuständige Kirchenkoordinatorin, unsere Trauung vorzubereiten, weil sie sagte, dass Terry mich nicht wirklich lieben würde und es ihm mit der Heirat nicht ernst sei. Ich dachte, sie läge absolut falsch; das sagte ich ihr auch. Nicht lange danach kam auf der Straße eine Frau auf mich zu und sagte mir, ich solle nicht heiraten, weil der Mann, den ich zu heiraten beabsichtigte, kein guter Mann wäre. Ich hatte keinen Schimmer, wer diese Frau war, und beachtete sie auch nicht weiter. Im Rückblick verstehe ich, warum sie sagte, was sie sagte, und warum die Kirchenkoordinatorin so Position bezogen hatte. Wie meine Großmutter uns immer gesagt hatte, verfügen Erwachsene über viel mehr Weisheit als Kinder. Und vielleicht war diese Frau auf der Straße ein Engel, den Gott gesandt hatte und der versuchen sollte, mich auf einen anderen Weg zu bringen. Waren das vielleicht alles böse Vorzeichen, auf die ich mehr hätte achten sollen? Terry, der meinen Ring einer anderen Frau ansteckte? Unsere Kirchenkoordinatorin, die sich weigerte, unsere Trauung vorzubereiten? Eine Fremde, die mir sagte, dass er kein guter Mann sei? Vielleicht waren es böse Vorzeichen und vielleicht hätte ich sie beachten sollen. Aber das tat ich nicht. Wie bereits gesagt: Ich liebte Terry mehr als mich selbst.

      Terry und ich warteten, bis wir einen Scheck über die Einkommensteuerrückzahlung erhielten. Dieses Geld verwendeten wir für ein bescheidenes Hochzeitsfest. Freundinnen von Terrys Mutter bereiteten das ganze Essen zu – jamaikanisches Hühnchen, Curry-Gerichte und sogar chinesisches Essen – und wir hielten die Zeremonie im Garten hinter dem Haus einer der besten Freundinnen seiner Mutter in Maryland ab. Jemand schmückte den Garten mit einem kleinen Torbogen und Blumen und wir stellten hundert weiße Klappstühle auf.

      Einer dieser Stühle – so unwahrscheinlich das jetzt auch klingen mag – war übrigens reserviert für meinen Vater.

      Ich hatte meinen Vater nicht mehr gesehen, seit er mich vor zehn Jahren verprügelt hatte. Doch trotz allem, was er mir СКАЧАТЬ