Название: Ägypten
Автор: Juergen Stryjak
Издательство: Bookwire
Жанр: Путеводители
isbn: 9783862844791
isbn:
Bis zum Rücktritt von Hosni Mubarak sollte es zwar noch drei Tage dauern, aber der Junge ist sich sicher – wie eigentlich alle auf dem Platz –, dass sie das Unvorstellbare schaffen werden. Die Erinnerung an diese Begegnung wühlt mich noch heute auf. Sie kommt mir noch immer so vor, als hätte sie gestern erst stattgefunden, ich kann das Gesicht des Jungen nicht vergessen. Nichts macht deutlicher, was den Ägypterinnen und Ägyptern in jenen Tagen die Revolution bedeutete – und warum fast alles, was danach kam, an Tragik kaum zu überbieten ist.
An jenem 8. Februar steht auf dem Tahrir-Platz auch ein älterer Mann mit grauem Bart, der ein seltsames Schild hochhält. Der Mann sieht nicht so aus, als gehöre das Internet zu seinem Alltag, aber auf der Pappe steht nur ein einziges Wort: Facebook. Auf die Frage, was er damit sagen möchte, antwortet er: »Das ist eine Facebook-Revolution, eine Revolution der Jugend, sie hat’s geschafft! Mein Dank an die Jugend Ägyptens!«
Das mit der Facebook-Revolution ist richtig und falsch zugleich. Fast alle Aktivisten, die der Revolution zu jenem Schwung verhalfen, der Mubarak am Ende aus dem Amt fegen sollte, gehören zu irgendwelchen Facebook-Gruppen. Die sozialen Netzwerke boten den Leuten eine virtuelle Zivilgesellschaft, die sie unter Mubarak im wirklichen Leben nicht hatten. Wo immer sich vor der Revolution auf der Straße ein paar Dutzend Menschen zu Protesten versammelten, wurden sie von Hunderten, manchmal Tausenden Polizisten eingekesselt und isoliert. Manche der Facebook-Gruppen haben mehrere Hunderttausend Mitglieder. »Die ägyptische Gesellschaft war in zwei Welten gespalten«, sagte mir damals die Wissenschaftlerin Ghada al-Ahdar, die seit 2001 an der Cairo University auf dem Gebiet der Cyberkultur forschte. »Es gab so viele Zwänge, dass die Menschen an politischen Prozessen gar nicht teilnehmen konnten. Außerhalb der systemtreuen Eliten existierte keine politische Kultur. Facebook hat die Kultur verändert.« Im Internet diskutierten säkulare Ägypter plötzlich mit jungen Muslimbrüdern, Liberale mit Linken, Männer mit Frauen, Universitätsprofessoren mit Handwerkern – und sie erlebten nicht selten, dass sie mehr verbindet als trennt. Jetzt mussten sie die Wut über die Verhältnisse, ihre Energie und die Sehnsucht nach Veränderung nur noch irgendwie auf die Straße tragen, ins wirkliche Leben.
Dass dies gelang, ist dem Mubarak-Regime zu verdanken. In der Nacht vom 27. zum 28. Januar 2011 stellte es landesweit das Internet fast komplett ab. Der Volksaufstand gegen Mubarak hatte am 25. Januar begonnen, mit einer ersten Demonstration von mehreren Zehntausend Leuten. Deshalb nennen Ägypter die Revolution auch, obwohl sie 18 Tage lang dauerte, Thauret 25. Janair, die Revolution vom 25. Januar. Für den 28. Januar war zu einem Tag des Zorns aufgerufen worden. Der Aufruf ging gerade noch so wie ein Lauffeuer durch die sozialen Netzwerke, dann war das Internet plötzlich weg. Wer jetzt wissen wollte, was an jenem Tag passierte, musste rausgehen. Und es waren tatsächlich Hunderttausende, die im ganzen Land auf die Straße gingen, nicht nur in Kairo, sondern auch in Alexandria, Port Said, Ismailia und vielen anderen Städten. »Die User hatten im Internet einen bestimmten Umgang miteinander gelernt«, erzählt Ghada al-Ahdar, »nun dachten sie: Genau so verhalten wir uns auch in der Realität, jetzt erst recht.«
Der 28. Januar, ein Freitag, wird zu dem Tag, an dem die Menschen ihre Angst besiegen. Am Morgen schaltet das Regime auch die Handynetze ab. Kurz zuvor empfing ich noch eine jener Kurzmitteilungen, die Aktivistengruppen massenhaft verschickten: »Versammelt Euch vor den Moscheen und Kirchen! Bildet Demonstrationszüge! Verzichtet auf religiöse Symbole!« Als ich kurz nach Mittag am Talaat-Harb-Platz im Stadtzentrum unterwegs bin, biegen aus den Seitenstraßen Demonstranten auf die Hauptstraße ein, erst in kleinen Gruppen, die aber schnell anwachsen. Viele singen die Nationalhymne. Wenn Demonstrationszüge aufeinandertreffen und sich vereinen, jubeln die Massen. Die Sicherheitskräfte zünden Tränengasgranaten. Auf der Flucht vor dem Tränengas frage ich einen jungen Demonstranten im Laufschritt, ob er denn keine Angst habe. »Ich habe mehr Angst um mein Land als um mich«, ruft er ohne zu zögern. »Wir leben wie zu Pharaonenzeiten«, sagt ein anderer zornig, »aber heute jagen die Sklaven die Pharaonen weg.« Als ich Stunden später zurück ins ARD-Studio komme, sehe ich auf allen Brücken über den Nil machtvolle Demonstrationszüge, die sich Richtung Tahrir-Platz bewegen. Nach Einbruch der Dunkelheit brennt ein paar Häuser weiter das Hochhaus von Mubaraks Regierungspartei. Niemand löscht das Feuer.
Die Ziele der Proteste waren vor Beginn der ersten Demonstration im Internet veröffentlicht worden, von den Aktivisten der Protestbewegung 6. April zum Beispiel. Sie forderten die Einführung eines Mindestlohns, die Aufhebung der Notstandsgesetze sowie die Absetzung von Innenminister Habib al-Adly, den viele Menschen für die Polizeigewalt der vergangenen Jahre verantwortlich machten. Doch innerhalb weniger Tage, ja Stunden, nachdem es losging, schmolzen alle diese Ziele zu einem einzigen Sprechchor zusammen: »Ash-shaab yurid isqat an-nizam.« – Das Volk will den Sturz des Regimes. Auf dem Tahrir-Platz erzählen mir die Leute, welche Veränderungen sie vom Sturz des Regimes erhoffen. »Wir wollen ein System wie in Deutschland oder Schweden, mit Krankenversicherung und Kinderbetreuung«, fordert eine Ägypterin, »ich muss ein ganzes Jahr arbeiten, um die Schule meiner Kinder bezahlen zu können. Wenn einer bei uns seine Meinung sagt, wird er geschlagen. Wir wollen, dass Ägypten endlich ein ganz normales Land wird.« Die Revolution hat zwar eine Vielzahl von Aktivisten, aber nicht wirklich einen Anführer. Es gibt auf dem Tahrir-Platz noch niemanden, der die politische Gesinnung der Leute für seine Zwecke missbraucht. »Das ist ein Volksaufstand«, erklärt mir ein älterer Mann auf dem Platz, »Mubarak hat uns gespalten, hier die Muslime, dort die Christen, hier diese politische Strömung, dort eine andere – damit sich am Ende die Leute gegenseitig auffressen und Mubarak die Macht behalten kann.«
Bei den Protesten auf dem Tahrir-Platz, aber auch an anderen Orten in der Stadt taucht auf Plakaten und Flugblättern eine Graphik auf, die eine drahtige, kraftvolle Faust zeigt, mal weiß auf schwarzem Untergrund, mal umgekehrt, seltener auch schwarz auf blutrotem Grund. Es ist das Logo der serbischen Aktivistengruppe Otpor!, auf Deutsch Widerstand, die im Jahr 2000 maßgeblich am Sturz von Slobodan Milošević beteiligt war. Die jungen Ägypter der Bewegung 6. April ließen sich von der Taktik der Serben nicht nur inspirieren, sie hatten auch Kontakt zu ihnen. 2009 besuchte der Blogger Muhammed Adel, damals Anfang 20, in Belgrad das Zentrum für Angewandte Gewaltfreie Aktion und Strategie (CANVAS). »Bei dem Training bekam ich erklärt, wie man friedliche Demonstrationen organisiert, wie man Gewalt vermeidet und wie man der Gewalt der Sicherheitskräfte begegnet«, schilderte er in einer Dokumentation des Fernsehsenders Al Jazeera English. Gewaltfreiheit ist für die Wortführer unter den ägyptischen Aktivisten ein wichtiges Element. Einzelne gewalttätige Akte unter Hunderttausenden von Demonstranten, selbst wenn es sich nur um Steinwürfe handelt, würden nicht nur die Gegengewalt der Sicherheitskräfte provozieren. Sie würden auch der Propaganda des Regimes Argumente dafür liefern, die Demonstranten pauschal als Unruhestifter und Kriminelle zu verunglimpfen. Und sie würden die Berichterstattung beherrschen. Viele Demonstranten haben diese Idee verinnerlicht. Beim Beginn der sogenannten Schlacht der Kamele auf dem Tahrir-Platz am 2. Februar beobachte ich, wie sich Demonstranten dem Steinhagel eines Mubarak-treuen Mobs mit erhobenen Händen entgegenstellen, zumindest am Anfang. An einem anderen Tag löst sich vor dem Gebäude des Staatsfernsehens ein Demonstrationszug mit mehreren Tausend Teilnehmern innerhalb von Minuten auf, als plötzlich Steine fliegen.
Dieser Kontakt zu ausländischen Gruppen wie Otpor! kommt dem Mubarak-Regime gelegen. In den staatstreuen Medien wird zum ersten Mal jener Vorwurf erhoben, den man in den Jahren danach immer wieder hören sollte: Die Regimegegner seien vom Ausland bezahlte Agenten, die Ägypten ins Chaos stürzen sollen. Das ist Unsinn. Die Menschen gehen nicht auf die Straße, weil sie dafür 20 US-Dollar und kostenlose Lunchboxen der Fastfoodkette Kentucky Fried Chicken erhalten, wie in den Medien behauptet wird. Sie bekommen weder das eine noch das andere, sie demonstrieren, weil sie die Verhältnisse satt haben und endlich nach Jahren der Stagnation einen Wandel wollen. Die Demonstranten reagieren dann auch mit Humor СКАЧАТЬ