Название: Gesammelte Werke: Romane, Erzählungen, Dramen & Gedichte (Über 200 Titel in einem Buch)
Автор: Franz Werfel
Издательство: Bookwire
Жанр: Языкознание
isbn: 9788075835543
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In diesen Minuten war Pastor Aram Tomasian tatsächlich nicht mehr weit vom Zelt seiner Schwester entfernt. Er war mit Howsannah gekommen, die ihr armseliges Kind trug. Als Aram grob Einlaß forderte, antwortete ihm kein Laut. Da zog er kurzerhand sein Messer und zerschnitt die Schnüre, die das Zelt von innen verschlossen. Der Pastor hatte den großen Sack, den er geschultert trug, niedergleiten lassen. Die Frau mit dem fast leblosen Bündel des Säuglings blieb einige Schritte hinter ihm. Der ganze Aufzug sah danach aus, als wollten die sinnverwirrten Menschen wirklich schon in dieser Stunde den Damlajik verlassen, ohne den Gottesdienst und die Volksversammlung erst abzuwarten. Tomasian schien nur noch auf der Suche nach Kework zu sein, um dann sogleich mit den Seinen in das sichere Nichts aufzubrechen.
Wäre Pastor Aram in dieser Stunde er selbst gewesen, mild, evangelisch, liebevoll, der starke frohe Bruder von Zeitun, Iskuhi hätte sich vielleicht nicht lange geweigert, mit ihm zu gehn. Warum auch sollte sie in diesem verlassenen Zelt bleiben? Sie wußte, daß ihre Füße sie nicht mehr weit tragen konnten. Dann würde irgendwo auf sanfte Weise alles zu Ende sein, das Ohrensausen, Gabriel, sie selbst. Statt des liebevollen Bruders von Zeitun jedoch stand ein unbekannter Gewaltmensch im Zelt, der mit dem Stock zu fuchteln begann:
»Steh auf! Mach dich fertig! Du kommst mit!«
Diese bösen Worte wälzten sich wie Felsen auf Iskuhi. Steif ausgestreckt, starrte sie diesen fremden Aram an. Jetzt konnte sie sich nicht mehr rühren, selbst wenn sie hätte gehorchen wollen. Tomasian faßte seinen Stock fester:
»Hörst du nicht? Ich befehle dir, daß du sofort aufstehst und dich fertigmachst. Als dein älterer Bruder und als dein geistlicher Vater befehl ich's. Hast du verstanden? Ich will doch sehn, ob ich dich nicht der Sünde entreißen kann!«
Bis zu dem Wort »Sünde« war alles Erstarrung gewesen. Die »Sünde« aber weckte hundert Quellen zornigen Widerstandes in Iskuhi. Alle Schwäche fiel von ihr ab. Sie sprang auf. Hinter den Bettrahmen sich zurückziehend, ballte sie ihre kleine rechte Faust wie zur Verteidigung. Doch ein neuer Feind lugte jetzt ins Zelt, Howsannah:
»Laß sie doch, Pastor, gib sie auf! Sie ist eine Verlorene. Ich bitte dich, komm ihr nicht zu nahe, sonst wird sie dich anstecken. Laß sie! Wenn sie mit uns geht, wird uns der Herr nur noch mehr strafen. Es hat keinen Zweck. Komm, Pastor! Immer hab ich es gewußt, was für eine sie ist. Du aber warst närrisch mit ihr. Schon in der Schule von Zeitun hat sie sich mit den jungen Lehrern abgeschmiert, die Männertolle! Laß sie, ich bitte dich, und komm!«
Iskuhis Augen wuchsen immer fassungsloser. Sie hatte seit Juliettens Erkrankung Howsannah nicht mehr gesehn und ahnte nicht, daß sie eine völlig Besessene vor sich hatte. Die junge Pastorin war auf schreckliche Weise verändert. Um Gott durch ein Opfer zu versöhnen, hatte sie sich das schöne Haar ganz kurz abgeschoren. Ihr Kopf wirkte nun winzig klein und hexenhaft böse. Alles an ihr war abgezehrt und verschrumpft, nur der Leib wölbte sich vor, eine krankhafte Folge der Niederkunft. Jetzt streckte Howsannah mit einer unbeschreiblichen Gebärde der Anklage das Bündel mit dem Säugling der Schwägerin entgegen und kreischte:
»Sieh her! Nur du bist schuld an diesem Unglück!«
Da kam der erste Laut von Iskuhis Lippen: »Jesus Maria!« Ihr Kopf sank auf die Brust. Sie gedachte der schweren Stunde Howsannahs, da sie mit ihrem Rücken die Gebärende gestützt hatte. Was wollten diese tollen Menschen von ihr? Warum gab man ihr in den allerletzten Stunden ihres Lebens nicht Frieden? Der Pastor hatte indessen seine plumpe Silberuhr gezogen und ließ sie an der Kette pendeln:
»Zehn Minuten gebe ich dir Zeit, damit du dich bereitmachen kannst.«
Dann drehte er sich zu Howsannah um:
»Nein, du! Sie kommt mit. Ich lasse sie nicht! Vor Gott muß ich Rede stehn für sie ...«
Iskuhi stand immer noch hinter dem Bett, ohne sich zu rühren. Aram Tomasian aber wartete die Zeit nicht ab, sondern ging schon nach drei Minuten hinaus. Die plumpe Uhr pendelte noch immer an seiner Faust. Draußen auf dem Dreizeltplatz war es inzwischen sonderbar laut geworden.
Wie auf Katzensohlen waren die dreiundzwanzig Männer aufgetaucht, die sich jetzt in dem Raum zwischen dem Scheich- und dem Krankenzelt bewegten. Der langhaarige Deserteur schien nach seinem ganzen Benehmen der Anführer zu sein. Spielte sich diese bedenkliche Erscheinung als Kommandant der unerwarteten Kömmlinge auf, so hatte Sato, als vierundzwanzigste im Bunde, zweifellos die Rolle einer Pfadfinderin inne. Sie rieb sich unschuldig mit ihrem Ärmel die Nase, als wollte sie den Eindruck erwecken, daß ihre kindliche Wenigkeit den Zweck dieser unangesagten Unternehmung nicht kenne und verstehe. Ein dienstlicher Auftrag wahrscheinlich. Doch weder Kilikian noch auch sein famoser Kontrollmeister waren zugegen. Es herrschte jene tückisch geladene Verlegenheit, wie sie so oft einem Verbrechen vorauszugehn pflegt. Der Anblick der Deserteure bot anfangs nichts weiter Erstaunliches, es sei denn, daß einige von ihnen die türkischen Beutebajonette auf ihre Gewehre gepflanzt hatten. Aber man sah ja immer wieder die Zehnerschaften in geschlossenen Zügen vorüberziehen, wenn sie von der Ablösung aus den Stellungen kamen oder zur Ablösung in die Stellungen marschierten. Heute besonders, da die Schüsse im Norden nicht verstummen wollten, hatte eine Rotte von Bewaffneten nichts Auffälliges. Als Aram Tomasian vor Iskuhis Zelt trat, begann sich die Sache schon zu entwickeln. Und doch sah er eine ganze Weile lang mit der größten Gleichgültigkeit dem Vorgang zu. Sein Sinn, von dem eigenen unverzeihlichen Beginnen umwölkt, vermutete irgendeinen Befehl Bagradians, der von diesen Kämpfern dort ausgeführt werden sollte. Was aber ging ihn, der sich von dem Volke schon gelöst hatte, die Verteidigung des Damlajik noch an?
Witwe Schuschik jedoch hatte schärfere Augen. Mit ihrer großen Gestalt füllte sie den Zelteingang völlig aus. Sofort erkannte sie, was sich hinter Satos Getue verbarg, hinter dieser vertrackten Zeichensprache, die immer wieder auf das Zelt der Hanum wies. Schuschik stellte sich breitbeinig hin und öffnete die Arme, bereit, alles Böse mit ihrem eigenen Leib abzufangen. Der Langhaarige löste sich aus dem Knäuel:
»Wir sind geschickt, um den Proviant abzuholen, den ihr noch immer hier bei euch habt.«
»Ich weiß von keinem Proviant ...«
»Du wirst schon davon wissen. Die silbernen Büchsen, mein ich, mit den Fischen, die in Öl schwimmen, die Weinkrüge und die Haferflocken.«
»Ich weiß von keinem Wein und keinen Haferflocken. Wer schickt dich?«
»Was geht das dich an? Der Kommandant!«
»Der Kommandant soll selbst kommen.«
»Also weg da! Ich warne dich zum letztenmal, dummes Weib! Länger werdet ihr da drin nicht auf eurem Fraß hocken. Der kommt uns zu!«
Schuschik aber sagte nichts mehr, sondern verfolgte mit Blick und Hand eines Ringers die Bewegungen des Langhaarigen, der sein Gewehr fortgeworfen hatte und den besten Ausfallspunkt suchte. Als er sich dann von links her auf die Frau stürzte, hatte sie ihn schon mit Untergriff um die Hüfte gefaßt, hob den Schmächtigen mit eisernen Händen hoch und schmiß ihn unter den Haufen, so daß er zwei Männer mit sich umriß. Und dann stand sie wieder ruhig da, die Riesin, ohne daß ihr Atem schneller ging, die Arme lauernd geöffnet, um den nächsten Kunden zu empfangen. Ehe aber Schuschik ihren Tod noch ahnen konnte, war es schon um sie geschehn. Ein tückisch von der Seite geführter Kolbenhieb hatte ihr den Schädel zerschmettert. Sie starb blitzschnell, auf der Höhe ihres Glücks, denn noch in diesen Kampfsekunden war ihr Wesen nur von einem einzigen Gefühl erfüllt: Haik wird leben. Zu Boden stürzend, versperrte sie mit ihrer Leiche den Weg zu der unseligeren Mutter Stephans. Jetzt erst begriff Pastor Aram, was vorgegangen war. Aufschreiend, mit hoch erhobenem Stock flog er auf die Rotte zu, СКАЧАТЬ