Gesammelte Werke. Isolde Kurz
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Название: Gesammelte Werke

Автор: Isolde Kurz

Издательство: Bookwire

Жанр: Языкознание

Серия: Gesammelte Werke bei Null Papier

isbn: 9783962812515

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СКАЧАТЬ Eine sol­che kind­li­che Hal­lu­zi­na­ti­on hät­te viel­leicht im Mit­tel­al­ter ge­nügt, eine un­glück­li­che Frau der Hexe­rei und der Schorn­stein­fahrt zu über­füh­ren.

      Aber die­sen Kin­der­lei­den, von de­nen die Er­wach­se­nen nichts zu ah­nen pfle­gen, hielt eine un­er­mess­li­che Kin­der­se­lig­keit die Wage. Sol­che Fest- und Won­ne­ta­ge wie un­se­re Ge­burts­ta­ge konn­te das spä­te­re Le­ben aus all sei­nem Reich­tum nicht mehr her­vor­brin­gen. Der fei­er­lichs­te war der mei­ni­ge, der Tho­mas­tag; da er in die Weih­nachts­wo­che fiel, wur­de an die­sem Abend der Baum an­ge­zün­det und die Be­sche­rung ge­hal­ten. Schon vie­le Tage vor­her han­tier­te un­se­re Jo­se­phi­ne mit köst­li­chen sü­ßen Tei­gen und stach mit den hoch­ehr­wür­di­gen al­ten Mo­deln, die ich im­mer ir­gend­wie mit un­se­ren alt­ger­ma­ni­schen Göt­tern in Zu­sam­men­hang brin­gen muss­te – viel­leicht hat­te un­ser Va­ter ein­mal die Be­mer­kung ge­macht, dass die »Sprin­ger­lein« Wodans Roß be­deu­ten –, das herr­lichs­te Back­werk aus. Es wur­de in über­schweng­li­chen Men­gen her­ge­stellt und mit den Freun­des­häu­sern korb­wei­se als Ge­schenk ge­tauscht. Mama saß mit be­freun­de­ten Da­men und »do­ckel­te« heim­lich, d. h. sie näh­te aus bun­ten Sei­den­lap­pen die schöns­ten Pup­pen­klei­der. Im­mer hing da und dort ein gol­de­ner Fa­den, der die­se feen­haf­te Tä­tig­keit ver­riet. Die üb­ri­gen Lap­pen hü­te­te ich in ei­ner Papp­schach­tel, sie wa­ren mir als Stoff zu künf­ti­ger Ge­stal­tung fast noch wer­ter als die fer­ti­gen Kleid­chen. Die Gro­ßen be­grif­fen nicht, warum die­se Schach­tel jede Nacht an mei­nem Bett ste­hen muss­te, aber ich wuss­te recht wohl, was ich tat, denn wer hät­te sie sonst ge­ret­tet, falls des Nachts ein Brand aus­brach? Ich hat­te schon den Griff ein­ge­übt, wo­mit ich sie fas­sen woll­te, wäh­rend ich im an­de­ren Arm die Pup­pen hielt, um durch die Flam­men zu sprin­gen. Man sage noch, dass klei­ne Kin­der kei­ne Voraus­sicht hät­ten! – Wenn dann nach ei­ner herz­klop­fen­den Er­war­tung end­lich die Tür des Weih­nachts­zim­mers auf­ging und der Duft und Glanz des mit gol­de­nen Nüs­sen be­han­ge­nen Baums uns ent­ge­gen­ström­te, dann war mit dem ers­ten se­li­gen Au­fat­men auch der Hö­he­punkt des Glückes über­schrit­ten. So herr­lich Pup­pen­stu­be, Kü­che, Kauf­la­den mit ih­rem In­halt wa­ren, der Ge­dan­ke, dass auch die­ser Abend un­auf­halt­sam zu Ende ge­hen muss­te wie je­der an­de­re, mach­te den Be­sitz im vor­aus zu­nich­te. Das Schöns­te an dem Fest war je­des Mal der letz­te Au­gen­blick der Er­war­tung.

      An den Ge­burts­ta­gen der Brü­der wur­den im­mer alle Ge­schwis­ter mit­be­schenkt. Man er­wach­te früh bei noch ge­schlos­se­nen Lä­den voll Hoff­nung und Un­ge­duld, stell­te sich aber schla­fend und blin­zel­te nur nach den Din­gen, die da kom­men soll­ten, wäh­rend müt­ter­li­che Hän­de ganz lei­se vor je­des Kin­der­bett ein Tisch­chen rück­ten. Da stan­den dann im Mor­gen­licht be­zau­bern­de Din­ge, wie Far­ben­schach­teln, bun­te Blei­stif­te, gold­ge­rän­der­te Tas­sen, für mich eine Glas­schach­tel mit gol­de­nen, sil­ber­nen und far­bi­gen Per­len zum Sti­cken und An­rei­hen, und was mich im­mer am höchs­ten be­glück­te: ein blü­hen­des Ro­sen­stöck­chen mit vie­len Knos­pen, das ich sel­ber pfle­gen durf­te. Vor dem Ge­burts­tags­kind aber brann­ten die Jah­res­ker­zen über dem Ku­chen. – Wenn ich mei­ne se­li­gen Obe­reß­lin­ger Erin­ne­run­gen ge­gen die Brie­fe mei­ner Mut­ter aus je­ner für sie so schwe­ren und düs­te­ren Zeit hal­te, so kann ich erst ganz die Grö­ße die­ser un­end­li­chen Lie­be er­mes­sen, die den Him­mel über un­se­ren jun­gen Häup­tern so rein und blau er­hielt. Obe­reß­lin­gen war die Sand­bank, auf die po­li­ti­sche Ver­fe­mung und li­te­ra­ri­sches Nicht­ver­stan­den­sein mei­nen Va­ter ge­wor­fen hat­ten. Sein Ge­ni­us büß­te dort in der Enge des Da­seins und der Ein­tö­nig­keit der Land­schaft, die da­bei nichts Groß­ar­ti­ges hat­te, die Schwung­kraft ein. Aber das Kind sah an­ders. Ihm war die blo­ße Berüh­rung des un­ge­pflas­ter­ten Erd­bo­dens und sei­ne grü­ne Nähe Glückes ge­nug, der Hopf­sche Gar­ten, wo man Sta­chel- und Jo­han­nis­bee­ren pflücken und der Hen­ne ins Nest gu­cken durf­te, das Pa­ra­dies. Ein un­ge­wöhn­lich ent­wi­ckel­tes Ge­ruchs­ver­mö­gen mach­te mir auch all die hun­dert Kräut­lein im Gra­se zu lau­ter klei­nen Per­sön­lich­kei­ten, mit de­nen ich in Be­zie­hung trat.

      Ed­gar und ich hiel­ten in der Kin­der­schar am engs­ten zu­sam­men, weil wir zu­erst vor al­len an­de­ren da­ge­we­sen wa­ren und uns eine ge­mein­sa­me Welt er­baut hat­ten. Dass ich aber auch noch als Sechs­jäh­ri­ge am liebs­ten mit ihm von ei­nem Tel­ler aß und in ei­nem Bett­chen schlief, wo­bei wir bis zum Ein­schla­fen zu­sam­men Ver­se ver­fer­tig­ten, weiß ich nicht mehr aus ei­ge­ner Erin­ne­rung, son­dern aus Brie­fen der Mut­ter. Und dass an die­sen Ver­sen, wie sie schrieb, nichts Gu­tes war als die Leich­tig­keit des Reims, ist nicht zu ver­wun­dern. Un­se­ren Spie­len hat­ten sich bald zwei an­de­re Brü­der, Al­fred und Er­win, ge­sellt, ohne dass sich mir der Zeit­punkt ih­res ers­ten Er­schei­nens ein­ge­prägt hät­te. Mit Be­wusst­sein er­leb­te ich nur die Ge­burt des Jüngs­ten, der im Jah­re 1860 zur Welt kam und nach Ma­mas Lieb­lings­hel­den Ga­ri­bal­di ge­nannt wur­de. Im Fa­mi­li­en­krei­se hieß er nie an­ders als Bal­de. Ich brach­te ihm zu­nächst kei­ne große Be­geis­te­rung ent­ge­gen, denn ich hat­te aus un­vor­sich­ti­gen Re­den Er­wach­se­ner ent­nom­men, dass sei­ne be­vor­ste­hen­de An­kunft eine un­lieb­sa­me Über­ra­schung war, und das mach­te mich zu­nächst ein we­nig zu­rück­hal­tend. Dass ich, statt wie bis­her die wil­den Spie­le der Brü­der im som­mer­li­chen Gar­ten zu tei­len, jetzt Nach­mit­tage­lang sit­zen und sei­nen Schlaf hü­ten soll­te, stimm­te mich auch nicht fro­her. Aber als ich ei­nes Ta­ges eine Flie­ge in den of­fe­nen Mund des Kin­des krie­chen sah und alle Mühe hat­te, sie her­aus­zu­brin­gen, ohne ihn zu we­cken, da wur­de mir sei­ne gan­ze Hilf­lo­sig­keit klar; von Stun­de an lieb­te ich ihn zärt­lich und wid­me­te ihm auch ger­ne mei­ne Zeit.

      Es mag in je­nem Jah­re oder auch et­was frü­her ge­we­sen sein, dass ich zum ers­ten Mal mei­ne ei­ge­ne Be­kannt­schaft mach­te. Im großen Zim­mer in Obe­reß­lin­gen wa­ren zwi­schen den Fens­tern zwei lan­ge schma­le Wand­spie­gel ein­ge­las­sen, die auf ei­nem nied­ri­gen, rings um­lau­fen­den So­ckel ruh­ten. Ei­nes Ta­ges, ob es nun Wir­kung der Be­leuch­tung oder sonst ein Zu­fall war, blieb ich plötz­lich be­trof­fen mit­ten im Zim­mer ste­hen und starr­te in einen die­ser Spie­gel, der mir mein ei­ge­nes Bild ent­ge­gen­hielt. Ein lei­ser Schau­der über­lief mich, und ich dach­te einen nie­ge­dach­ten Ge­dan­ken: Also das bin ich! Zwi­schen Scheu und Wiß­be­gier trat ich ganz nahe hin­zu und mus­ter­te das schma­le, durch­schei­nen­de Kin­der­ge­sicht, das fast nur aus Au­gen be­stand, aus großen, er­staun­ten Au­gen, die mich rät­sel­haft und for­schend an­blick­ten, wie ich sie: Also das sind mei­ne Au­gen, mei­ne Stirn, mein Mund! Mit die­sem Ge­sicht, mit die­sen Glie­dern muss ich nun im­mer bei­sam­men sein und al­les mit ih­nen ge­mein­sam er­le­ben! – Die­ser Fra­ter Cor­pus, der »Bru­der Leib«, den ich da plötz­lich vor mir sah, schi­en mir aber kei­nes­wegs mein Ich zu sein, son­dern ein eben auf mich zu­ge­tre­te­ner Weg­ge­nos­se, mit dem ich jetzt wei­ter zu pil­gern hät­te. Und es kam mir vor, als wäre eine Zeit ge­we­sen, wo wir zwei uns noch gar nichts an­gin­gen. Bis­her war mir näm­lich mei­ne Kör­per­lich­keit nur be­wusst ge­wor­den, wenn ich mir eine Beu­le an die Stirn rann­te oder mit der großen Zehe ge­gen einen Stein stieß. СКАЧАТЬ