Название: Die wichtigsten Werke von Jodocus Temme
Автор: Jodocus Temme
Издательство: Bookwire
Жанр: Языкознание
isbn: 9788027238149
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Sie vertraute ihm.
»Mein armes Kind ist schon seit langer Zeit verschwunden«, sagte sie.
»Sie haben gar keine Nachricht, keine Spur von ihr?«
»Nicht die geringste.«
»Sie ist oder sie war verheiratet?«
»An einen sehr braven Mann, den Regierungsrat Mahlberg. Sie lernte ihn in Breslau kennen, wo er Assessor und mein Mann Sekretär bei der Regierung war. Als er Regierungsrat wurde, heirateten sie sich.«
»Wann war das?«
»Vor jetzt drei Jahren, im Sommer 1812.«
»Die beiden liebten sich?«
»O mein Herr, ich kann Ihnen nicht sagen, wie sehr, und wie glücklich sie in ihrer Liebe waren.«
»Und wie lange dauerte dieses Glück? Erzählen Sie weiter, Madame.«
»Im Februar 1813 begann der Krieg mit den Franzosen. Der König erließ jenen Aufruf an alle waffenfähigen Männer Preußens. Mein Schwiegersohn Mahlberg war einer der ersten, die ihm folgten. Seine Frau blieb bei uns in Breslau zurück. Unsere Truppen siegten.
Die Franzosen wurden über den Rhein gejagt. Der König erhielt seine Länder zurück, die ihm Napoleon entrissen hatte, auch seine westfälischen Provinzen. Die alten Behörden wurden darin wieder eingesetzt. Mein Mann kehrte hierher nach Wesel als Kriegsrat bei der Intendantur zurück. Mahlberg wurde zur Belohnung seines Mutes, den er im Felde bewiesen, mit Gehaltserhöhung bei der wieder eingesetzten Regierung zu Minden angestellt. Er erhielt nach der Schlacht bei Leipzig von seinem Regiment einen kurzen Urlaub, um seine neue Stelle zu übernehmen und zugleich seine Frau nach Minden zu bringen. Zu uns nach Wesel mochte er sie nicht führen, der Lazarettyphus herrschte hier; mein armer Mann wurde bald ein Opfer der verheerenden Krankheit. In Breslau, wo wir sehr eingezogen gelebt und wenige Menschen gekannt hatten, mochte er sie nicht allein zurücklassen. Meine Tochter war freilich auch in Minden nicht glücklich. Sie war getrennt von dem Manne, den sie liebte; sie musste bald die Nachricht von dem Tode ihres Vaters erhalten. Sie schrieb in der ersten Zeit oft an mich, später seltener. Auf einmal bekam ich gar keine Nachricht mehr von ihr. Es war sehr kurze Zeit vor Beendigung des Kriegs. Am 31. März vorigen Jahres waren unsere Truppen in Paris eingerückt. Der Krieg war damit zu Ende. Vierzehn Tage später war mein Schwiegersohn hier bei mir. Er fragte nach seiner Frau.
Auch er hatte seit langer Zeit keine Nachricht von ihr gehabt, schon seit Weihnachten nicht mehr. Er hatte bald nach der Einnahme von Paris Urlaub genommen und war nach Minden gereist, hatte sie aber nicht mehr dort gefunden. Sie war seit längerer Zeit fort; sie war plötzlich abgereist; warum, wohin, wusste niemand. Sie war in der letzten Zeit sehr still und traurig gewesen und hatte fast keinen Menschen gesprochen. Mein Schwiegersohn hatte acht Tage lang nach ihr geforscht, gesucht in der Umgegend von Minden, bei allen Bekannten. Er fand sie nirgends, Niemand konnte ihm etwas von ihr sagen. Sie war und blieb spurlos verschwunden. Da kam er zu mir. Auch ich wusste nichts von ihr. Er hatte keine Ahnung, warum sie sich entfernt habe, wo sie sein möge; auch ich hatte keine. Ich hatte nicht einmal einen Anhalt, um mir Gedanken darüber machen zu können. Er sprach nicht darüber. Er musste zu seinem Regiment nach Frankreich zurück. Ich hörte dann auch von ihm nichts mehr. Von meiner Tochter bringen Sie seitdem mir die erste Nachricht. Aber Sie haben ja auch keine?«
Die Frau sprach die letzten Worte ängstlich fragend.
Der Domherr hatte ihr schweigend zugehört.
»Nein«, sagte er.
»Aber etwas müssen Sie doch wissen, mein Herr?«
»Ich habe nur den Auftrag, mich nach ihr zu erkundigen und, wenn sie in Not ist, ihr zu helfen.«
»Von wem?«
»Von jemand, den Sie nicht kennen.«
»Der aber mein Kind kennt?«
»So wenig wie ich. Leben Sie wohl, Madame.«
Die Frau hatte weinend ihr Gesicht verhüllt.
Der Domherr hielt seinen Schritt an.
»Madame, wenn ich Nachricht von Ihrer Tochter erhalte, teile ich sie Ihnen mit.«
»O mein Herr, wie werde ich Ihnen dankbar sein!«
»Hm, hm«, sagte der Domherr draußen auf dem Rückwege zur Post, »ein Rätsel liegt da vor. Wird es das Rätsel eines Verbrechens sein? Hole der Kuckuck diesen Krieg! Auch der Junge, der Gisbert! Und die Gisbertine!«
Seine Pferde standen bereit. Er fuhr mit seinem alten Diener weiter, in die tiefere Nacht hinein.
Er konnte ein paar Stunden schlafen.
Als er erwachte, war eben die Sonne aufgegangen. Er war mitten in einer jener langen und langweiligen Heiden, durch welche die schon vom Kaiser Napoleon angelegte große Chaussee von Wesel nach Münster und weiter läuft.
Die Sonne war an dem klarsten, reinsten Himmel aufgegangen; kein Wölkchen zog ihr vorher, folgte ihr. So stand sie voll hinten am Rande der unabsehbaren Heide, in gerader Richtung vor dem Domherrn, als er erwachte.
Er fuhr von Westen nach Osten. Sie stand dunkelrot vor ihm und so groß; sie sah ihn an wie ein gigantisches Blutgesicht.
Er musste sich schütteln. Ein Grauen erfasste ihn; die Morgenkälte trat hinzu…
»Heute ist ja der fünfzehnte. Gewiss heute werde es zur Schlacht kommen, schrieb er ja. Sie werden früh an die heiße Arbeit gehen. Mit der blutigen Sonne da! Wie mancher sieht sie zum letzten Male! Vielleicht in diesem Augenblick schon! Auch Gisbert? — Was schreibt er denn? Ich las den Brief nur eilig.«
Er hatte die beiden Briefe, die er gestern erhielt, zu sich gesteckt; er zog sie hervor. Er wollte sie nochmals lesen. Es vertrieb ihm ja auch die Zeit in der langweiligen Heide, in der er nichts sah als das graue Heidekraut. Nur von dem Briefe Gisberts hatte er gesprochen. Aber die beiden Briefe staken beisammen, und um den einen zu lesen, hatte er den andern mit hervor ziehen müssen, und als er sie beide in der Hand hielt, ging es ihm wieder wie am gestrigen Abende, er las wieder zuerst den Brief der Dame Gisbertine.
Er lautete:
»Lieber Onkel! Der Onkel Steinau ist noch immer von seinen Wunden nicht ganz genesen. Namentlich hat er in dem zerschossenen Beine noch sehr heftige Schmerzen und eine solche Schwäche, dass er auf zwei Krücken gehen muss. Die Ärzte wollen daher, dass er in ein Bad gehe.
Sie wollten ihn nach Pyrmont schicken. Mir fiel etwas anderes ein. Du bist der langjährige Stammgast des Bades Hofgeismar und wirst auch in diesem Jahre wieder hingehen. Der Onkel Steinau bedarf ebenso sehr der Zerstreuung und Aufmunterung wie des Brunnenwassers. Denn dass er diesmal hat zurückbleiben müssen, dass er nicht wieder mit über den Rhein ziehen konnte, dass dort diesmal ohne ihn gekämpft wird, das ist es, was ihn krank, unglücklich, elend macht. In Pyrmont wäre er allein, ohne irgendeinen Bekannten In Hofgeismar bist Du mit Deiner Liebe, Deiner Freundschaft, Deinem Humor. Überdies sehne auch ich mich, Dich, lieber Onkel, wiederzusehen Ich soll nämlich den Onkel Steinau begleiten. Da fragte ich die Ärzte, ob Hofgeismar dieselben Dienste leiste wie Pyrmont. Sie sagten СКАЧАТЬ