Название: Die hochzeit von Lyon. Novellen / Свадьба в Лионе. Новеллы. Книга для чтения на немецком языке
Автор: Стефан Цвейг
Издательство: КАРО
Жанр: Зарубежная классика
Серия: Originallektüre Deutsch
isbn: 978-5-89815-875-0
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Das Seltsamste und für die ganze Stadt Verwunderlichste aber war: der alte Mann, der nie zu den Gläubigen der Gemeinde gehört hatte, begann mit einemmal fromm zu werden. Gleichgültig sonst gegen alles, und bei Tisch und Verabredung immer unpünktlich, versäumte er doch niemals, zu gebotener Stunde in den Tempel zu gehen: dort stand er, in schwarzer Seidenkappe, den Gebetmantel um die Schultern, an immer demselben Platze, dem gleichen, wie einstmals sein Vater, und wiegte den müden Kopf psalmodierend hin und her. Hier, im halbverlassenen Raum, wo die Worte fremd und dunkel um ihn dröhnten, war er am besten mit sich allein, eine Art Frieden kam hier über seine Wirre und sprach dem Dunkel zu in der eigenen Brust; wurden aber Totengebete gelesen und er sah die Verwandten, die Kinder, die Freunde eines Abgeschiedenen in ergriffen geübter Pflicht und mit immer neuer Beugung und Beschwörung für den Hingeschiedenen Gottes Milde anrufen, dann wurden ihm manchmal die Augen trüb: er war der Letzte, er wusste es. Niemand würde für ihn ein Gebet sprechen. Und so murmelte er andächtig mit und dachte an sich selbst dabei wie an einen Toten.
Einmal, spät abends, kam er von solch verworrener Wanderung zurück, da fiel mittwegs Regen über ihn her. Der alte Mann hatte wie immer seinen Schirm vergessen, Wagen standen bereit für billiges Entgelt, Haustor und gläserne Vordächer boten Schutz vor der rasch zerströmenden Wolke, aber der Sonderliche wankte und schwankte gleichgültig im Triefenden weiter. Im zerdrückten Hut sammelte sich ein durchsickernder Tümpel, die tropfenden Ärmel strömten ganze Bäche auf den eigenen Schritt: er achtete nicht darauf und trottete weiter, der einzige fast auf der menschenverlassenen Straße. Und so, durchnäßt und triefend, einem Landstreicher ähnlicher als dem Herrn dieser vornehm wartenden Villa, erreichte er die Einfahrt seines Hauses gerade im Augenblick, als ein Automobil mit weithin vorgeschüttetem Licht hart an ihm stoppte, bei dem Rückstoß noch wässerigen Kot auf den unachtsamen Fußgänger schleudernd. Der Schlag wurde aufgerissen, aus elektrisch beleuchtetem Coupe stieg eilig seine Frau, hinter ihr mit deckendem Schirm irgendein vornehmer Besuch und ein zweiter Herr; knapp vor der Tür stießen sie zusammen. Die Frau erkannte ihn und erschrak, als sie ihn in diesem Zustand gewahrte, triefend, zerknüllt, wie ein aus dem Wasser gezogenes Bündel; unwillkürlich wandte sie den Blick. Der alte Mann verstand sofort: sie schämte sich seiner vor den Gästen. Und ohne Regung, ohne Erbitterung ging er, um ihr das Peinliche eines Vorstellens zu ersparen, wie ein Fremder die paar Schritte weiter bis zur Dienertreppe: dort bog er demütig ein.
Von diesem Tag an benutzte der alte Mann in seinem eigenen Hause immer nur noch die Dienertreppe: hier war er gewiss, niemandem zu begegnen. Hier störte er nicht, hier störte niemand ihn. Auch von den Mahlzeiten blieb er weg – eine alte Magd brachte ihm das Essen in sein Zimmer; versuchte einmal die Frau oder seine Tochter bei ihm einzudringen, so murrte er sie mit verlegener und doch unbesiegbarer Gegenwehr hastig wieder fort. Schließlich ließen sie ihn allein, man gewöhnte sich ab, nach ihm zu fragen, und er fragte nach nichts. Oft hörte er Gelächter und Musik aus den ändern, ihm schon fremden Räumen durch die Wände sikkern, hörte draußen Wagen vorfahren und wegknattern bis tief in die Nacht. Aber so gleichgültig war ihm das alles, dass er nicht einmal aus dem Fenster blickte: was ging es ihn an? Nur der Hund kam noch manchmal herauf und legte sich vor des Vergessenen Bett.
Es tat nichts mehr weh in dem abgestorbenen Herzen, aber innen im Leibe wühlte der schwarze Maulwurf weiter und riss blutig im zuckenden Fleisch. Die Anfälle mehrten sich von Woche zu Woche, endlich gab der Gequälte dem ärztlichen Drängen nach, das besondere Untersuchung forderte. Der Professor blickte ernst. Vorsichtig vorbereitend, äußerte er, eine Operation sei nun unabwendbar. Aber der alte Mann erschrak nicht, er lächelte nur trüb: Gott sei Dank, jetzt ging es zu Ende. Zu Ende mit dem Sterben, jetzt kam das Gute, der Tod. Er verbot dem Arzt, seinen Angehörigen ein Wort zu sagen, ließ sich den Tag bestimmen und machte sich bereit. Zum letztenmal ging er in sein Geschäft (wo niemand ihn mehr erwartete und alle ihn ansahen wie einen Fremden), setzte sich noch einmal auf den alten schwarzledernen Bocksessel, den er dreißig Jahre, sein ganzes Leben, tausend und tausend Stunden gedrückt, ließ sich ein Scheckbuch geben und füllte eines der Blätter aus: das brachte er dem Vorsteher der Gemeinde, der über die Höhe der Summe fast erschrak. Sie galt wohltätigen Werken und seinem Grab; allem Dank sich zu entziehen, stolperte er hastig hinaus, dabei verlor er seinen Hut, aber er bückte sich nicht einmal mehr, ihn aufzuheben. Und so, bloßen Hauptes, die Blicke trüb im gelbkranken, verfalteten Gesicht, trottete er (erstaunt sahen ihm die Leute nach) auf den Friedhof zum Grabe seiner Eltern. Dort beobachteten ein paar Müßige den alten Mann und wunderten sich abermals: er sprach lange und laut mit den halbvermoderten Steinen, wie man mit Menschen spricht. Kündigte er sich an, oder erbat er ihren Segen? Niemand hörte die Worte – nur die Lippen regten sich stumm, und immer tiefer neigte sich das schaukelnde Haupt im Gebet. Beim Ausgang dann drängten die Bettler dem Wohlbekannten zu; er kramte hastig Münzen und Noten aus den Taschen und hatte schon alles verteilt, da kam noch ein altes verhutzeltes Weib verspätet angehumpelt und flennte ihn an. Verwirrt suchte er überall nach – er fand nichts mehr. Nur am Finger drückte noch etwas Fremdes und Schweres: sein goldener Ehering. Irgendein Erinnern kam über ihn – er streifte ihn hastig ab und schenkte ihn dem verwunderten Weib.
Und so, ganz arm, ganz ausgeleert und allein trat der alte Mann unter das Messer.
Als der alte Mann aus der Narkose noch einmal erwachte, riefen die Ärzte, den gefährlichen Zustand erkennend, die inzwischen verständigte Frau und Tochter ins Zimmer. Mühsam brach das Auge durch die bläulich umschatteten Lider: „Wo bin ich?“ starrte es in das Fremde und Weiße eines niegesehenen Raums.
Da beugte sich die Tochter, ihm ein Liebes zu tun, über das arme verfallene Gesicht. Und plötzlich zuckte etwas Erkennendes in dem blind umtastenden Augenstern auf. Ein Licht, ein kleines, stieg empor in die Pupille: das war sie ja, das Kind, das unendlich geliebte, da war sie, Erna, das zarte schöne Kind! Ganz, ganz langsam löste sich die bittere Lippe – ein Lächeln, ein ganz kleines Lächeln, längst entwöhnt dem verschlossenen Mund, begann vorsichtig anzufangen. Und erschüttert von dieser mühsamen Freude, beugte sie sich näher, die ausgeblutete Wange des Vaters zu küssen.
Aber da – war es das süßliche Parfüm, das ihn erinnerte, oder besann sich das halbbetäubte Gehirn vergessenen Augenblicks? – da fuhr plötzlich fürchterliche Veränderung über die eben noch beglückten Züge: die Lippen, die farblosen, klebten sich mit einmmal grimmig abwehrend zu, die Hand unter der Decke arbeitete gewaltsam und wollte hoch, wie um etwas Widriges wegzustoßen, der ganze verwundete Leib bebte vor Erregung. „Weg! … weg!…“ lallte es unartikuliert und doch verständlich von der fahlen Lippe. Und so furchtbar formte sich der Widerwille in den zuckenden Zügen des nicht Fliehen-Könnenden, dass der Arzt besorgt die Frauen zur Seite schob. „Er deliriert“, flüsterte er, „es ist besser, Sie lassen ihn jetzt allein.“
Kaum, dass die beiden gegangen, lösten sich die verzerrten Züge wieder matt in ein leeres Schläfrigsein. Noch ging der Atem dumpfvon immer tiefer röchelte die Brust um die schwere Luft des Lebens. Aber bald wurde sie müde, diese bittere Menschennahrung in sich einzutrinken. Und als der Arzt prüfend das Herz befühlte, hatte es schon aufgehört, dem alten Manne weh zu tun.
Die gleichungleichen Schwestern
Eine „Conte drolatique“
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