Название: Der Stadtrat in Passau
Автор: Alois Huber
Издательство: Bookwire
Жанр: Языкознание
isbn: 9783748564461
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Dann hielt Marvin jäh inne.
„Dies ist ein Spaß des Schicksals, den wir nicht verderben dürfen“, rief er atemlos. „Die väterlichen Streithähne in grimmiger Parlamentsfehde und die Kinder unterdessen einträchtig bei fröhlichen Tanz! Fräulein Kälberer, nicht wankelmütig werden! Wenn die Alten sich hassen, sollen die Jungen sich lieben – machen Sie mit?“
„Das Schicksal will es wohl so!“, hauchte sie hingerissen.
Da gab Buschinski Junior Gas, und in einem besinnungslosen Rausch des Übermutes fuhren sie in der sinkenden Dämmerung des schwülen Sommerabends dem gemeinsamen Vergnügen entgegen…
3
Die Stadt Passau hatte wie jede Stadt eine vornehme Einkaufsstraße, die Schustergasse genannt wurde und quer durch das Zentrum verlief. Sie verband den Residenzplatz mit dem Karolinenplatz.
Der Karolinenplatz grenzt an die Innstraße, an der konzentrierte Amtsluft herrschte. Sie kam aus den Behörden ringsum, dem Finanzamt, der Agentur für Arbeit und der Universität Passau.
Ganz anders war es hingegen auf dem Residenzplatz. Hier standen ausschließlich ansehnliche Geschäftshäuser mit Schaufensterfronten, Läden aller Art, verschiedene Cafés, einer gemütlichen Cocktailbar und einem lärmerfüllten Wettbüro für Pferderennen. Hier wehte daher der frische Wind des lebendigen Alltags.
Dennoch gab es auch am Residenzplatz ein Haus mit Modergeruch. Es stand in der Mitte der Periphere und trug eine große dunkle Metalltafel mit der Inschrift:
»In diesem Haus lebte, schaffte und starb der deutsche Lyriker und Erzähler Hans Carossa, 1878-1956, Ehrenbürger der Stadt Passau«
Man glaubte nun nicht, dass dieser Hans Carossa ein Heros der Lyrik gewesen wäre. Er hatte einige Gedichtsbände geschrieben. Das war zu wenig, um Eingang in die Lehrbücher der Literaturgeschichte zu finden. Für eine Reihe Passauer Bürger hatte es indes genügt, ihm den Kranz der Unsterblichkeit zu verleihen. Sie erhoben nach seinem Ableben sein Sterbehaus zur Weihestätte, weshalb es fortan nicht mehr gelüftet wurde, und stifteten ihm außerdem noch ein Denkmal, das die Stadt in ihre Obhut nahm. Die Haupttreiber dieser erstaunlichen Ehrungen waren freilich die Angehörigen seiner weitverzweigten Sippe, allen voran sein Schwiegersohn Alois Buschinski, der seliger Vater von Horst Buschinski.
Nun also das Denkmal!
Es stand etwa zwanzig Meter vor der Front des Dichterhauses: ein dreistufiger Sockel aus rohbehauenen Quadern, aus dem eine dorische Säule anderthalb Meter hoch zu einem quadratischen Kapitell emporwuchs, und auf diesem Kapitell thronend die Büste Hans Carossas, langhaarig und bärtig wie der leibhaftige Zeus. Kenner hatten es schon bei seiner Enthüllung als dilettantisches Machwerk gekennzeichnet, das man schnellstens in die Luft sprengen sollte.
Trotzdem stand das steinerne Mal über ein halbes Jahrhundert da, ohne dass ihm ein Mensch etwas zuleide tat. Aber nun, just sechzig Jahre nach dem Ableben des Dichters, wurde ihm doch etwas angetan. Nicht, dass man es besudelte oder beschädigte. Nein, viel Schlimmeres. Man möchte es von seinem angestammten Platz entfernen und startete zu diesem Zweck eine wüste Lästerkampagne, die monatelang die ganze Stadt in Atem hielt und nun in der heutigen Ratssitzung als Punkt 5 der Tagesordnung zur Debatte stand.
Die Sache hatte übrigens eine zeitbedingte, sehr reale Ursache. Wie überall hatte sich in den letzten Jahren auch die Geschäftswelt der Passauer Innenstadt motorisiert. Es mussten täglich Lieferwagen zu den Geschäften, und deren Lenker pflegten den Platz just dort als Fahrweg zu benutzen, wo er das Dichterdenkmal trug.
Man konnte ihnen das nicht verdenken; denn die Strecke war die kürzeste Verbindung zum Residenzplatz. Aber das Denkmal stand ihnen im Wege; es zwang zu einem Bogen und sperrte die Sicht. Außerdem erschwerte es bei den Nachbarn des Poetenhauses, dem Metzgermeister Anton Kälberer und dem Bäckermeister Josef Gutbrot, die Ein – und Ausfahrt durch die Haustore.
Was Wunder also, dass die autofahrenden Handwerker und Kaufleute dieser Gegend das Denkmal auf einmal entschieden falsch am Platze fanden? Sie randalierten jedenfalls immer lauter gegen das Verkehrshindernis, und eines Tages machte einer von ihnen seinen Groll in einem Leserbrief an die Passauer Neue Presse Luft.
„Das Denkmal“, so stand im PNP zu lesen, „passt nicht mehr auf den Residenzplatz, der lebhafte Autoverkehr stößt sich laufend daran. Es ist darum ein Erfordernis unsere Zeit, dass es von da verschwindet. An den Ufern des Inn, oder am Bahnhof mag es nicht stören. Hier aber ist es zum Skandal geworden. Also reißt es ab und baut es irgendwo im Grünen wieder auf! Aber dalli, dalli, ehe uns der Kragen platzt! Einer der Betroffenen.“
Das wirkte wie ein Stich ins Wespennest!
Nicht im Rathaus. Die für das Wohl und Wehe des Denkmals verantwortliche Stelle der Stadtverwaltung tat vielmehr, als ginge sie die hier zum Ausdruck gekommene öffentliche Meinung einen Dreck an; sie beharrten abwartend in ihrer Ruhe und blieb stumm.
Umso mehr fühlten sich jedoch der „Verein der Freunde Hans Carossas“ getroffen. Hier saßen die Söhne und Töchter der Denkmalstifter und die nachgelassenen Verwandten des Dichters. Und die gerieten ob der brutalen Kriegserklärung des anonymen Schreibers augenblicklich ins Kochen.
„Ha, dieser Halunke“ tobte der Fabrikant Horst Buschinski in seiner Eigenschaft als Vorsitzender besagten Vereins und Enkel des Dichters. „Nicht genug, dass er das Denkmal verächtlich zu machen sucht und das Andenken unseres unsterblichen Hans Carossas schmäht – er droht auch! Er kündigt zwischen den Zeilen ein Attentat an! Na, warte, du feiger Barbar, dich werden wir Mores lehren!“
So Horst Buschinski. Und so auch sein doppeltes Echo: Studienrat Dr. Franz Weißnicht und der Abteilungsleiter Reiner Hohn.
Bis tief in die Nacht hinein brüteten die drei Tapferen mit dampfenden Köpfen über eine Erwiderung. Dann hatten sie ihren aufgewühlten Seelen einen Schriftsatz abgerungen, der eine Verlegung des Denkmals von seinem traditionsgeheiligten Standplatz an jede beliebige andere Stelle als Entwürdigung der Stadt brandmarkte und von Spott und Hohn über die Kulturlosigkeit und Unverfrorenheit des anonymen Angreifers nur so troff.
Die Kanonen, mit denen sie solcherart nach Spatzen schossen, sollten dem unbekannten Widersacher einen derartigen Schreck einjagen, dass ihm die Lust zu weiteren Leserbriefen ein für alle Mal verginge.
Aber was geschah, als die Entgegnung im PNP wortwörtlich veröffentlicht wurde? Die ganze Stadt geriet augenblicklich in einen wahren Taumel der Verzückung: Ah, endlich einmal im grauen Alltagseinerlei der Flüchtlingskrise mal eine Sensation, die das Zwerchfell kitzelte!
Und der „Betroffene“? Er zog sich keineswegs bestürzt in den Schmollwinkel zurück. Im Gegenteil. Er zeigte sich in seiner Anonymität überraschend mutig und hatte auf die geharnischte Antwort sofort eine nicht weniger geharnischte Erwiderung.
Und da keiner daran dachte, dem anderen das letzte Wort zu lassen, ging es so Schlag um Schlag weiter, Spott gegen Spott, Hohn gegen Hohn, Zorn gegen Zorn.
Ein Gaudium, wie es Passau seit hundert Jahren nicht genossen hatte!
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