Rückkehr nach Strapen. Stefan Raile
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Название: Rückkehr nach Strapen

Автор: Stefan Raile

Издательство: Bookwire

Жанр: Языкознание

Серия:

isbn: 9783748560494

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СКАЧАТЬ belegten es. In Finnland, Norwegen und in den USA hatte es nach dem Ersten Weltkrieg ein Alkoholverbot gegeben. Getrunken wurde dennoch.

      Verbote helfen nicht immer. Ich wusste es aus Erfahrung, und auch meine Mutter musste es mit der Zeit einsehen.

      „Der Junge ist kein Umgang für dich“, bestimmte sie an dem Tag, als ich Fredi für eine Stunde in unsre Wohnung mitgenommen hatte, um mit ihm Mathematik zu üben. Er trug eine schäbige Jacke mit viel zu kurzen Ärmeln, eine mehrfach geflickte Hose aus Planenstoff und derbe graue Wollsocken, die größtenteils in plumpen Holzpantinen verschwanden.

      In diesem Aufzug hatte ich ihn eine Woche vorher kennengelernt. Menzel, unser Klassenlehrer, brachte ihn morgens mit. Er legte ihm eine Hand auf die Schulter und stellte ihn vor: „Das ist Manfred Veyrich. Er ist Umsiedler und stammt aus Schlesien. Durch den Krieg hat er viel Unterricht versäumt. Er wird es schwer haben, deshalb möchte ich, dass ihr ihm helft.“ Sein Blick fiel auf den freien Platz neben mir. „Setz dich zu Ronald“, ordnete er an, „dort bist du gut aufgehoben.“

      Fredi stakste durch den schmalen Gang zwischen Wand und Bankreihe, hängte seinen Ranzen an den Haken und zwängte sich auf den unbequemen Sitz.

      In der Pause rief mich Menzel nach vorn. „Wir haben für Manfred kein Mathematikbuch“, sagte er. „Ihr wohnt doch nicht weit voneinander. Würdest du ihm deins für die Hausaufgaben leihen?“

      „Mach ich.“

      In der Hofpause wich Fredi nicht von meiner Seite. Während ich eine Schnitte verzehrte, schritt er neben mir her, seine Hände tief in die Hosentaschen geschoben.

      „Hast du kein Frühstück mit?“, fragte ich.

      „Nein.“

      „Aber hungrig bist du?“

      Er druckste eine Weile, gestand schließlich: „Bisschen.“

      Da reichte ich ihm mein letztes Brot. „Nimm nur“, drängte ich ihn. „Ich bin schon satt.“

      Er zögerte, ehe er zulangte und hastig zu essen begann. So erlebte ich ihn noch oft, er war immer hungrig, und das wunderte mich nicht; denn er hatte acht Geschwister.

      Seit dem Verbot meiner Mutter brachte ich ihn nicht mehr mit nach Hause, aber ich ging regelmäßig zu ihm, und manchmal war ich auch dort, wenn Abendbrot gegessen wurde. Die Familie saß dann um einen großen Tisch, auf dem ein riesiger Topf stand. Daraus schöpfte die Mutter für jeden in den Teller, meist Kartoffelsuppe. Die verhärmte Frau teilte gerecht, und alle begannen gleichzeitig zu löffeln, schnell und trotzdem irgendwie andächtig, vielleicht deshalb, weil niemand sprach, und zuletzt kam für jeweils ein Kind der Höhepunkt: Da durfte nach strenger Folge der Topf ausgekratzt werden, was unter den Blicken der Übrigen mit beträchtlicher Hingabe geschah.

      Später, als ich bei der Familie schon heimisch war, wurde ich öfter zum Mitessen aufgefordert. „Wo elf satt werden“, sagte Fredis Mutter, „werden ‘s auch zwölf.“

      Im Sommer gingen die Geschwister Ähren lesen und im Herbst Kartoffeln stoppeln. Ich begleitete sie häufig, obgleich meine Mutter dagegen war. „Ronny“, sagte sie, „hast du‘s nötig, dir den Rucksack auf ‘n Buckel zu hängen und wie ein Habenichts durch die Gegend zu streunen?“

      Meist schwieg mein Vater, wenn sie so mit mir redete. Aber diesmal wurde es ihm zu viel. „Lass ihn“, verlangte er. „Der Junge nimmt keinen Schaden dabei.“

      Wir standen mit Hunderten am Feldrand und warteten, bis die Bauern ihre Äcker verließen. Dann buddelten wir wegen ein paar Kartoffeln bis zur Dämmerung in der Erde.

      Eines Nachmittags entdeckten wir in Waldnähe eine frisch aufgebrochene, erst grob abgelesene Fläche. Weit und breit war niemand zu sehen.

      „Los“, sagte Fredi, „die Gelegenheit ist günstig.“

      Wir rannten aufs Feld, öffneten unsre Rucksäcke und stopften Kartoffeln hinein. Den Hufschlag bemerkten wir zu spät. Hinter uns zügelte ein Bauer sein Pferd. Das Tier tänzelte und blähte die Nüstern. Neben ihm lauerte ein Schäferhund, der vom raschen Lauf hechelte. „Aufhören!“, befahl der Reiter. „Alles sofort wieder ausschütten!“

      Zwei oder drei gehorchten. Fredi und ich zögerten.

      „Wird‘s bald, ihr Strolche?“, schrie der Bauer. „Oder soll ich erst den Hund loslassen?“

      Aus den Augenwinkeln sah ich, wie er seine Schenkel gegen den Pferdeleib presste. Das Tier setzte sich in Bewegung. Mit ihm näherte sich auch der Rüde. Er zerrte an der Leine und bleckte die Zähne. Da leerten wir die Rucksäcke. Dem Reiter ging es zu langsam, er rief: „Fass, Hasso, fass!“

      Der Hund bellte und sprang auf uns zu. Wir rannten davon, stolperten über aufgeworfene Erde und Steinbrocken, zwängten uns ins Unterholz. Auf einer Lichtung verschnauften wir. Hinter uns blieb es ruhig.

      „So ein elender Geizhals“, schimpfte Fredi. „Tut so, als käme er wegen der paar Kartoffeln an den Bettelstab. So sind fast alle, meint Vater. Sie leben wie die Maden im Speck, während wir darben. Wie Stülpner müsste man handeln, um ‘s zu ändern. Warum machen wir‘s eigentlich nicht?“

      Fortan waren die Bauern für uns die Pfeffersäcke, denen wir nur das nahmen, was sie unserer Meinung nach ohnehin zu viel hatten. Wir stoppelten keine Kartoffeln mehr, sondern ernteten sie an geeigneten Stellen einfach vom Feld. Auf gleiche Weise gelangten wir auch zu Zuckerrüben, aus denen Fredis Mutter mit viel Mühe und Geduld dickflüssigen Sirup kochte.

      Unsre Streifzüge erforderten geschicktes Vorgehen. Bald waren wir so gewieft, dass uns nie jemand auf frischer Tat ertappte. Später, als es mit den Lebensmitteln besser wurde, und wir nicht mehr zu stehlen brauchten, kamen uns die angeeigneten Fertigkeiten bei etwas anderem zugute: Wir spielten im nahen Loenschen Park Räuber und Gendarm oder Cowboy und Indianer.

      Meine Mutter begriff, dass sie den Umgang mit Fredi und seinen Geschwistern nicht verhindern konnte. Dennoch bemühte sie sich mit großer Hartnäckigkeit, mich zu beeinflussen. „Ronny, die passen nicht zu dir“, behauptete sie. „Die sind wie Zigeuner.“

      Bei Viola, einem schwarzhaarigen, gertenschlanken und dunkeläugigen Mädchen, traf ihre Ansicht zu, wenngleich nicht in der Art, wie sie es meinte, sondern wegen der außergewöhnlichen Schönheit und dem glutvollen Blick, den ich bei allen Zigeunermädchen vermutete. Der Blick war daran schuld, dass ich für Fredis zwei Jahre ältere Schwester zu schwärmen begann und ihretwegen meine ersten erotischen Träume erlebte. Doch sie bemerkte wahrscheinlich gar nicht, dass ich sie mochte, da sie von vielen verehrt wurde und ihre Freunde oft wechselte, weil wohl keiner ihren Vorstellungen entsprach. Nur von einem kam sie später nicht los, und das war ein Hallodri, der sie, kaum achtzehnjährig, über Westberlin nach Bayern lotste. Davon erfuhr ich zufällig; denn zu Fredi riss nach der achten Klasse die Verbindung ab, als ich die Görlitzer Oberschule besuchte, und er in Bautzen eine Lehre begann.

      Der Fahrer bremste. „Du warst ganz entrückt“, sagte er. „Ich muss hier abbiegen, und du willst deinen Trip sicher fortsetzen. Also dann weiterhin Massel! Es hält nämlich nicht jedes Auto!“

      Seine Prognose bestätigte sich. Manchmal musste ich sehr lange warten, bis mich jemand mitnahm. Auf diese Weise war ich etliche Tage unterwegs. Genächtigt wurde, wie es sich ergab: in Scheunen, Strohfeimen, Jugendherbergen und zwei-, dreimal in Pensionen oder preiswerten Hotels. Ich sah mir fremde Städte an, überquerte Plätze, auf СКАЧАТЬ