Der Pferdestricker. Thomas Hölscher
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Название: Der Pferdestricker

Автор: Thomas Hölscher

Издательство: Bookwire

Жанр: Языкознание

Серия:

isbn: 9783750219397

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СКАЧАТЬ Menschen wohnten in viel zu vielen und zu großen Häusern. Und die Menschen, die solche Häuser hätten bevölkern können, die mochte man in diesem Land nicht. Dann wollte er diesen Gedanken nicht mehr weiterspinnen: Irgendwie verursachte ihm ein solches Denken ein Gefühl des Unwohlseins, manchmal sogar der Angst; der Angst, schon längst zum Fremden geworden zu sein im eigenen Land. Er wusste, dass er selber auch zu den Stammtischstrategen gehörte, die die vielen Ausländer nicht mochten und ständig neue Ideen hatten, was man mit denen anstellen sollte. Und sobald er alleine war, wollte er auch an sein Gerede am Stammtisch nicht mehr denken, verursachte es ebenfalls ein ungutes Gefühl und manchmal sogar die Überzeugung, dafür irgendwann so etwas wie die Quittung zu erhalten.

      Dabei gab es für ihn in der Realität schon seit Jahren keine Abende an irgendeinem Stammtisch mehr.

      Und doch waren es vor allem die vielen Ausländer gewesen, die sie vor Jahren schon aus dem Süden von Gelsenkirchen geradezu hatten flüchten lassen. Ein riesiges Haus hatten sie dort gehabt für sich selber und mehrere Mietshäuser für andere Leute. Zunächst hatten sie nichts dagegen gehabt, auch ausländische Familien in ihren Häusern wohnen zu lassen: schließlich war man kein Unmensch, und die Leute hatten nett und sauber ausgesehen und fleißig für ihr Geld gearbeitet, und sie hatten oft davon gesprochen, sobald wie möglich wieder in ihre eigenen Länder zurück zu gehen. Aber nur ein paar Jahre später waren sie gezwungen gewesen, fast alle Wohnungen an ausländische Familien zu vermieten oder leer stehen zu lassen, weil diese Leute nicht mehr weggingen, sondern immer mehr von ihnen kamen, und viele von diesen Leute hatten auch nicht mehr nett ausgesehen und fleißig für ihr Geld gearbeitet, weil es die Arbeiten, die sie einst ins Ruhrgebiet gelockt hatten, gar nicht mehr existierten. Und gewollt und immer häufiger auch verlangt hatten sie vor allem nur noch eines: dass man sie gewähren ließ, wenn sie Regeln nicht nur nicht achteten, sondern sogar gezielt verletzten. Für Unruhe hatten sie gesorgt, für ein ungutes Gefühl zunächst, dann für immer schneller steigende Sorgen und Ängste. Und da waren sie kurzerhand weggezogen ins Grüne wie so viele, die es sich irgendwie leisten konnten wegzugehen aus einer Umgebung, die ihnen längst fremd und oft sogar unerträglich geworden war.

      Und sie hatten sich diesen ehemaligen Bauernhof in der Nähe von Raesfeld, einem kleinen Ort im Münsterland am Rande des Ruhrgebiets, allemal leisten können. Eigentlich ist es Feigheit vor dem Feind, hatte seine Frau damals gesagt, und sie hatten darüber gelacht. Mittlerweile lachte er darüber schon lange nicht mehr.

      Eines Nachmittags waren sie einfach rausgefahren, hatten kurz vor Raesfeld die stark befahrene B224 verlassen und waren nach ein paar Kilometern vor dem damals schon leerstehenden Gehöft gelandet. In the middle of nowhere, das hatte er damals bereits gesagt, die nächste menschliche Behausung war schließlich über einen Kilometer entfernt; aber der Hof hatte ihnen beiden gefallen, war so etwas wie Liebe auf den ersten Blick gewesen, und so hatten sie, ohne lange zu überlegen, das Haus mit einem großen Stück Land gekauft.

      Allein der Umbau hatte ein Vermögen gekostet, Geld, das sie aber hatten. Das er auch jetzt noch hatte. Viel mehr, als er in der noch verbleibenden Zeit seines Lebens je würde verbrauchen können.

      Das war nicht immer so gewesen: aus einer kleinen Bäckerei hatten sie im Laufe von weniger als zehn Jahren eine ganze Kette von Läden in mehreren Städten des Ruhrgebiets aufgebaut, hatten Tag und Nacht geschuftet, um weitere Filialen zu eröffnen und noch mehr Geld anzuhäufen. Nur hatten sie nie die Zeit gehabt, das viele Geld auch auszugeben.

      Und dann war es ihm als eine grauenhafte Absurdität vorgekommen, dass seine Frau nur drei Monate nach Fertigstellung dieses großen Anwesens und dem Umzug aufs Land gestorben war und die einzige Tochter erklärt hatte, sie werde nicht mit ihnen dort wohnen; sie wolle lieber eine Wohnung in Bochum haben, wo sie damals studierte. Mittlerweile hatte sie geheiratet und wohnte in der Nähe von Hamburg. Das einzige Enkelkind, ein mittlerweile fünfjähriges Mädchen, hatte seine Frau nicht mehr gesehen; er selber hatte die Kleine außer bei der Taufe aber auch nur noch vier Mal gesehen. Zumeist hatte die Tochter mit ihrem Mann irgendwelche Bekannte im Ruhrgebiet oder die Familie des Schwiegersohnes besucht, und die beiden hatten nicht mehr als einen kurzen Zwischenstopp bei ihm eingelegt. Obschon seine Tochter ihn bei ihren gelegentlichen Telefonaten schon mehrfach eingeladen hatte, war er nie nach Hamburg gefahren: als mittlerweile Sechsundsiebzigjähriger wollte er nicht mehr seine Tochter und deren Familie besuchen. Er wäre sich vorgekommen wie ein Bittsteller, wie ein zufälliger Bekannter, den man nur deshalb im Haus duldete, weil es die Höflichkeit verbot ihm zu sagen, dass er störte.

      Es war Samstag, der 23.9.2000.

      Den ganzen Tag hatte die Sonne geschienen, es war ein herrlicher Tag gewesen, vielleicht sogar schon zu warm, ein wenig drückend auf jeden Fall, so dass mit einem Gewitter gerechnet werden musste. Und gerade diese schönen Tage empfand er als besonders unerträglich, weil ihn solche Tage nach seinem Dafürhalten geradezu aufforderten, irgendetwas Sinnvolles zu tun, irgendeine hier und jetzt gegebene Möglichkeit zu nutzen, das Leben eines sehr reichen Mannes einfach zu genießen. Die Tage mit scheußlichem Wetter gaben zumindest Anlass, sich zu ärgern, mit anderen über irgendein Sauwetter zu reden; die schönen Tage machten nur deutlich, dass man mit sich selber nichts mehr anzufangen wusste. Er wusste immer weniger, wie er die Zeit vom Aufstehen bis zum Einschlafen verbringen sollte, eine Zeitspanne, die zudem auch noch immer länger wurde, weil er abends nicht einschlafen konnte und morgens selbst im Sommer zumeist noch vor dem Sonnenaufgang aufstand. Vielleicht, hatte er oft gedacht, war es die schlimmste Geißel des Alters, insgesamt immer müder zu werden, ohne noch schlafen zu können.

      Dreimal in der Woche kam eine Frau aus Dorsten, einer Stadt am nördlichen Rand des Ruhrgebiets, und brachte das Haus in Ordnung, kochte für ihn, kaufte ein und erledigte überhaupt alle Besorgungen, um die er sie bat. Alle 14 Tage kam ein junger Mann aus der Nachbarschaft und brachte den Garten in Ordnung. An allen anderen Tagen kam niemand, und es passierte an diesen Tagen sehr häufig, dass er den gesamten, immer unendlicher werdenden Tag lang mit keinem Menschen auch nur ein Wort wechselte. Wieso ziehst du nicht wieder in die Stadt?, hatte ihn die Tochter schon mehrfach gefragt. Oder in unsere Nähe? Und dann hatte er jedes Mal ganz entrüstet geantwortet, dass er sich hier wohlfühle wie die Made im Speck, weil er insgeheim davon überzeugt war, dass sie ihn in irgendein Altersheim stecken wollte. Natürlich in das teuerste und beste, das es gab, aber auf jeden Fall in ein Altersheim. Dort, das wusste er, würde er verrückt werden.

      Außerdem hatte sich in den letzten drei Monaten zumindest ein ganz klein Wenig verändert. In den letzten drei Monaten war schon zum wiederholten Mal etwas passiert, das ihn zumindest für eine kurze Zeit seine Langeweile hatte vergessen lassen.

      Beim ersten Mal hatte er fürchterliche Angst gehabt. Er hatte seinen Augen nicht getraut und gewusst, dass er den Vorfall eigentlich bei der Polizei hätte melden sollen. Aber bereits nach ein paar Tagen war er froh darüber gewesen, nicht zur Polizei gegangen zu sein, überhaupt mit niemandem über diesen Vorfall gesprochen zu haben. Es war ihm selber so vorgekommen, als habe er nur so sicherstellen können, ganz allein einem unerhörten Geheimnis auf die Spur zu kommen.

      Und dann war es tatsächlich wieder passiert. Nur ein oder zwei Wochen später, das wusste er nicht mehr, und plötzlich schoss es ihm durch den Kopf, dass es ein Fehler war, über diese Vorkommnisse nicht genau Buch geführt zu haben.

      Die große Stehuhr im Wohnzimmer schlug elf. Für einen Augenblick dachte er daran, das Licht im Wohnzimmer auszuschalten; dann erschien ihm der Zeitpunkt noch viel zu früh. Wenn es heute passieren sollte, würde es noch Stunden dauern, das wusste er.

      Schon oft war ihm die ungeheure Ruhe aufgefallen, die hier ringsum herrschte. Vor allem als sie gerade hier eingezogen waren, hatte er es nicht für möglich gehalten, dass es eine solche Ruhe überhaupt gab.

      Und gerade diese Ruhe war es gewesen, die ihm Angst bereitet hatte, als es zum zweiten Mal passiert war. Niemand würde seinen Hilferuf hören, wenn ihm etwas zustoßen sollte, das СКАЧАТЬ