Название: Die Toten am Kleistgrab
Автор: Harro Pischon
Издательство: Bookwire
Жанр: Языкознание
isbn: 9783737502290
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Außerdem erwähnte sie noch kurz die USB-Sticks, die sie zunächst an einen Spezialisten der Kleistgesellschaft weitergegeben habe. Menzel zog nur eine Augenbraue hoch. Dann berichtete er von Czernys Lebensgefährten Weninger, von dessen Eifersucht und von seinem Auto, das durchaus als Transportmittel hätte dienen können. Er sprach auch über die Reise der Czerny mit Dehmel in die Schweiz und über das rätselhafte alte Foto an der Wand ihres Zimmers. „Das war bestimmt das Kleisthaus in Thun“, platzte da Scheck dazwischen. „Woher willst du das wissen?“, wies ihn Menzel zurecht, „du kennst das Bild doch gar nicht.“ Scheck errötete noch mehr, fing fast an zu stottern und erzählte dann, dass ihn der Verleger auch auf die Schweiz aufmerksam gemacht habe, eben auf das Kleisthaus am Thuner See und dass Dehmel angeblich einer Sensation auf der Spur gewesen sei. Er, Scheck, habe dann im Büro recherchiert und sofort unter „Kleisthaus“ mehrere Bilder gefunden, auch dass es heute nicht mehr stehe, dass aber Kleist einige Monate dort gelebt und an Dramen geschrieben habe. Er sei sich sicher, dass diese Sensation mit seinem Aufenthalt zu tun haben müsse.
„Sieh an, unser Musterschüler will bei der Frau Lehrerin Eindruck machen. Bestimmt kriegst du jetzt einen Smiley in dein Notizbuch, weil du so fleißig warst“, höhnte Menzel. So leicht würde er sich das Eifersuchtsmotiv nicht nehmen lassen. Und er wiegelte ab: Die Reise eines Literaturwissenschaftlers in die Schweiz sei ja nichts Außergewöhnliches. Dass er dabei seine junge Geliebte mitgenommen habe, könne man verstehen. Und dass er von einer Sensation geredet habe, nun ja. „Was für eine Sensation soll das denn gewesen sein? Dass er ein Buch mit einer neuen Erkenntnis in Fachkreisen veröffentlichen wollte? Woher wissen wir, was diese Herren unter einer Sensation verstehen? Oder weißt du Genaueres, Scheck?“
„N-n-nein, das nicht“, stotterte Scheck, „aber das muss man eben ermitteln.“
„Genug jetzt, Menzel“, fuhr Beate dazwischen. Selbst der Sekretärin war es peinlich, dass Menzel den jungen Kommissar versuchte zu demontieren. Der galt ihr noch als Lehrling und sie hegte fast mütterliche Gefühle für den jungen Scheck. Aber so weit, den in ihren Augen wirklichen Chef zu kritisieren, ging sie doch nicht. Beate fasste zusammen: „Wir haben noch kein eindeutiges Ermittlungsergebnis, das wir verfolgen können. Manches scheint auf ein Eifersuchtsmotiv hinzudeuten, auch die Ausstellung der Opfer am Fundort. Wir sollten uns genauer mit den beiden einschlägigen Verdächtigen beschäftigen und ihren Hintergrund ausleuchten, also mit Frau Mattwey-Dehmel und mit Weninger. Isolde, bitte kümmre dich darum. Außerdem lässt sich nicht übersehen, dass Dehmel einer Sache auf der Spur war, die mit Kleist vielleicht auch mit seinen Dramen zu tun hatte. Dabei konzentriert sich die Ermittlung auf den Aufenthalt Kleists in Thun. Mit Dehmel beschäftige ich mich und halte den Kontakt zur Kleistgesellschaft. Wolfgang, mach bitte einen Termin mit Thorsten Wolters in der Kleistgesellschaft, er soll mit Dehmel heftig konkurriert haben. Stefan, du solltest dich mit der Universität in Verbindung setzen und bei Kleist nachlesen. Isolde, hast du alles mitgeschrieben? Ich unterschreibe dann das Protokoll für den Direktor.“
Alle außer Beate standen auf und verließen den runden Tisch. Sie blieb noch sitzen und versuchte sich zu beruhigen. Das Gezänk machte ihr zu schaffen. Und sie glaubte zu wissen, dass es anders wäre, säße an ihrer Stelle ein Mann. Er hätte nicht diese Sehnsucht nach Ergänzung durch einen Partner, er hätte nicht die Melancholie der Verlassenen. Oh, sie verstand Melanie Mattwey-Dehmel, und sie bewunderte insgeheim deren Methode, mit Aggression und Arroganz den Schmerz zu bekämpfen. Beate drohte eher in Melancholie zu fallen. Doch die Arbeit hielt sie aufrecht, die Arbeit und ihr Junge. Sie stand auf.
Er
Sie haben es verdient! Beide haben sie es verdient zu sterben. Hab ich ihnen doch noch einen Gefallen getan, dass sie einen Ehrenplatz erhalten haben am Grab des Großen, des Überragenden, des Heiligen.
Kleine macht- und ruhmbesessene Seelen, das waren sie, so haben sie sich gezeigt. Wie Schweißhunde sind sie hinter dem Manuskript hergeschnobert, haben sich schon ausgerechnet, welche Preise, Auszeichnungen sie einheimsen könnten, eitle, feige Taktierer um ein bisschen Anerkennung der Meute da draußen, genauso gierig nach Sensationen, nach etwas Neuem, das ihre öden Tage belebt.
Ja, ich habe es in der Hand, ich habe es gelesen und wenn ihr mich in Ruhe lasst, dann schenke ich es euch – vielleicht. Denn ich bin der Jagd müde und der Verstellung und der Gewalt. Ich bin so müde. Wie soll ich aus diesem Irrgarten herausfinden? Langsam bin ich so weit, dass ich auch sterben möchte.
Obwohl ich es gerne auf der Bühne sähe, dieses unfassbare Trauerspiel, mit Massenszenen wie einst unter Max Reinhardt, mit Rauch und Flammen, mit visuellen und olfaktorischen Reizen, mit erschütternden Figuren, ein Stück Theater, wie es nicht einmal in der Postmoderne zu sehen ist.
Ja, der alte Wieland hatte Recht, dass dieses Stück aus einer Vereinigung der Geister von Äschylus, Sophokles und Shakespeare entsprungen sein könnte. Dabei war Wieland ein Greis seiner Zeit, er konnte die Modernität gar nicht wahrnehmen und mochte – wie Goethe – die Verzweiflung nicht an sich heranlassen. Denn der „Guiskard“ war keine Tragödie mehr, kein aussichtsloser Kampf eines tragischen Helden gegen das Schicksal, die Götter, die Konventionen. Es war eine Zerlegung, ach, ein Zersprengen der aristotelischen Tragödie und ihres Personals. Robert Guiskard, das war ein bewunderter Krieger, ein Held, ein Erlöser in den Augen des Volkes – bis sich herausstellte, dass er die Pest hatte, dem Tod geweiht war und dass er ein rücksichtsloser Machtmensch war, eroberungslustig, arrogant, verschlagen. Einer der so war, wie Napoleon später werden sollte. Ein Schauspiel hat er dem Volk vorgespielt, sich auf die Pauke gestützt, dass keiner etwas merken sollte. Mit Verrätern aus Byzanz hat er paktiert, die ihm die Stadt übergeben wollten, würde er nur Kaiser werden und nicht seine Tochter, die legitime Erbin. Und sein Sohn Robert? Ein missgünstiger, von Hass auf das Volk erfüllter Gnom, vom alten Guiskard bevorzugt, aber ohne Charisma, ohne Rückhalt. Des jungen Robert Gegenspieler, der legitime Herrschaftsanwärter Abälard scheint zunächst eine positive Figur, der Liebe und Mitleid mit dem unter der Pest leidenden Volk im Mund führt, letztlich aber auch nur ein gewiefter Rhetoriker ist. Als der junge Robert die Flotte anzündet, um die ersehnte Rückkehr unmöglich zu machen, liefert sich Abälard noch eine Redeschlacht mit Robert, um dann zu verschwinden. Für eine Nachfolge des Herrschers taugen sie beide nicht. So bleiben am Ende der alte Greis Armin und Helena, die Tochter, übrig. Sie sollen das Volk wieder nach Italien, nach Sizilien führen. Aber wie? Die Schiffe sind verbrannt, neue können nicht gebaut werden, es bleibt nur der beschwerliche Landweg. Ob sie jemals ankommen werden? Hier endet das Manuskript, ohne Erhebung, ohne Erhabenheit, ohne Hoffnung. Ein modernes Stück, das die Verzweiflung des jungen Kleist widerspiegelt, eine Verzweiflung, die hundert Jahre später und bis heute die Intellektuellen prägt.
Und er, er hat euch gefoppt, hat vorgegeben, alles verbrannt zu haben. Ja, gut, er wollte danach nichts mehr davon wissen. Aber konnte er behaupten, alle seine früheren Äußerungen seien erlogen gewesen? Was hätten alle über ihn und seine Briefe gedacht – Ulrike, Marie, Pfuel und die anderen? Natürlich war es damals ein unspielbares Stück, er wollte es deklamieren, vortragen. Ja, und? Lessing hat seinen „Nathan“ auch als Lesedrama, als dramatisches Gedicht bezeichnet und nie daran gedacht, es könnte einmal auf einer Bühne gespielt werden.