Название: Mein Blutsbruder: Der Orden der Schwarzen Löwen – Die Jagd auf eine Mörderbande
Автор: Tomos Forrest
Издательство: Bookwire
Жанр: Языкознание
isbn: 9783754186220
isbn:
Allerdings stand es auf dem Kopf.
Darunter entzifferte ich den lateinischen Text: ›quandius vita vixerit‹, was ich zunächst mit »wenn das Leben gelebt« übersetzte. Was aber hatte das zu bedeuten, und wollte der Priester mir diesen Zettel in die Kleidung stecken? Dann fiel mir ein, dass ich diese drei Wörter einmal gelesen hatte, als ich mich mit alten Flüchen beschäftigte, auch im Zusammenhang mit den Funden in Mesopotamien. Im Zusammenhang mit einem Text, den man den Römern zuschrieb, hieß es dort auch – ich erinnerte mich natürlich nicht wörtlich, schlug es aber später bei passender Gelegenheit nach – ›gib ihm bösen Sinn, bösen Tod, solange er das Leben gelebt hat, damit er mit dem ganzen Leib sehen soll, dass er stirbt‹, und das war nun das Motto eines Ordens? Oder ahmte da jemand auf üble Weise einen alten, ehrwürdigen Orden nach, um vielleicht nicht weiter aufzufallen. Tatsächlich hatte die Abbildung durchaus Ähnlichkeit mit dem Georgsorden, wie ich ihn bei einem früheren Besuch am Rocke König Ludwigs gesehen und seinerzeit Sepp danach gefragt hatte. Ich hielt dabei den Zettel zwischen den Fingern und wunderte mich plötzlich über den rauen Rand. Als ich ihn dicht an die Augen führte, erkannte ich ganz feine Punkte und Linien, die mich an die Brailleschrift erinnerte. Es war der Franzose Louis Braille, der diese Schrift für die Blinden entwickelt hatte. Die Lösung fand ich erst, als ich das Papier an die Scheibe des Abteils hielt und das Licht hindurchfiel. Es war eine weitere Textzeile, die ich Zeichen für Zeichen deutete: Saint George’s Black Lions. Das musste der Name dieser Vereinigung sein. Ob es sich um einen Orden, eine Loge oder eine anarchistische Bewegung handelte, konnte ich dem nicht entnehmen, aber diese Bezeichnung stärkte meine Vermutungen.
Ich blickte hinaus auf die vorüberziehende Landschaft, über der die ersten Sonnenstrahlen behutsam entlangtasteten. Da bewegte sich das Fräulein, schlug die Augen auf, sah mich kurz verwundert an und senkte gleich darauf wieder den Blick.
»Guten Morgen! Konnten Sie gut schlafen?«
Die junge Frau streckte sich etwas, gerade so, wie es schicklich erschien, und wir vernahmen einen Brummlaut aus der Ecke, in der sich der Priester gesetzt hatte.
»Auch Ihnen einen guten Morgen, Hochwürden!«, sagte ich freundlich und erntete ein zweites Brummen.
Mein Gegenüber erhob sich und nahm einen Weidenkorb aus der Gepäckablage, der mit einem gewürfelten Tuch bedeckt war. Gleich darauf stellte sie alle möglichen Leckerbissen auf das Tuch, das sie über einen freien Sitz ausgebreitet hatte.
»Darf ich Sie zum Frühstück einladen?«, hauchte sie schüchtern, und erneut grunzte der Geistliche in seiner Ecke unwillig. »Aber Oheim, der Herr musste doch Hals über Kopf aufbrechen und wird gewiss Hunger haben! Da ist es doch Christenpflicht, mit ihm zu teilen!«
Diesmal folgte kein Brummen, dafür erhielt ich einen bitterbösen Blick.
Das Fräulein aber reichte mir zwei Scheiben geschnittenes Brot und deutete auf kleine Spanschachteln und Gläser.
»Bitte, bedienen Sie sich doch, wir haben genügend dabei, um satt zu werden!«
Tatsächlich lief mir beim Anblick der Leckereien buchstäblich das Wasser im Mund zusammen. Und als sie noch dazu ein Glas mit eingeweckter, gekochter Wurst öffnete und der Duft durch unser Abteil zog, konnte ich nicht mehr widerstehen und langte herzhaft zu.
Dann kam der Moment, in dem unser Zug langsamer wurde, bis schließlich die Gebäude einer kleinen Stadt und schließlich der Bahnhof vor unserem Abteilfenster auftauchte. Der Zug hielt noch nicht, da war ich schon aufgestanden und öffnete die Abteiltür.
»Herzlichen Dank für das köstliche Frühstück!«, sagte ich. »Auf Wiedersehen!«
Das Fräulein war schon wieder rot geworden und nickte mir freundlich zu, der Priester dagegen schien aufzuatmen, weil ich endlich verschwand. Dabei würden wir uns ja sicher noch öfter sehen, denn von hier aus konnte man entweder nur in einen Zug der Staatseisenbahn nach Triest einsteigen – oder aber wieder zurück nach Innsbruck fahren.
Da klangen die Worte des Geistlichen an mein Ohr, die er mir nachschickte. Er sprach nicht laut, aber doch sehr gut verständlich. Es war in lateinischer Sprache.
»Accidit in puncto, quod non speratur in anno." – »In einem Augenblick kann geschehen, was man sich in einem Jahr nicht erhofft hätte«, lautete sein seltsamer Ausspruch, den er fast so betonte, als würde er den Segen erteilen.
Ich reagierte nicht darauf, spürte aber, wie mir eine Gänsehaut über den Rücken lief. Aber ich konnte mich nicht weiter um den Priester kümmern, hier galten andere Prioritäten. Erleichtert betrat ich den Perron und blickte am Zug entlang, um auf keinen Fall den Verfolgten aus den Augen zu verlieren. Ich hatte dazu die Times vom Vortag herausgezogen, lehnte mich gegen einen der Stützpfeiler des Bahnhofdaches und tat so, als würde ich lesen.
Dann entdeckte ich die hohe Gestalt des Barons, der sein Äußeres nur wenig verändert hatte. Die grauen Haare waren verschwunden, doch dafür trug er jetzt einen dichten, langen Bart und eine Brille mit blau getönten Gläsern. Er schien es nicht sonderlich eilig zu haben, stolzierte im Gegenteil ganz gelassen mit den anderen Reisenden hinüber in das Speiselokal im Bahnhof, während die Gepäckträger hin und her eilten, um die Koffer, Hutschachteln und Kisten in den bereits wartenden Zug nach Triest zu verladen.
Langsam wurde ich auf meinem Beobachtungsposten unruhig. Leider war hier, im Gegensatz zu Innsbruck, nicht ein einziger Polizist zu sehen. Ich konnte mir zwar nicht vorstellen, dass man nicht längst eine Beschreibung des Gesuchten telegrafiert hatte – aber ich wollte auch meinen Posten nicht verlassen, um vielleicht auf dem Bahnhofsvorplatz nach einem Gendarmen Ausschau zu halten.
Die Passagiere kamen nach und nach wieder zurück und stiegen in ihre Abteile. Noch immer war vom Baron nichts zu sehen. Gerade wollte ich das Speiselokal aufsuchen, als ich ihn entdeckte. Er spazierte gelassen, den Stock immer wieder auf den Boden stoßend.
Auch ein Pfiff der Lokomotive konnte seinen Schritt nicht beflügeln. Er ging weit nach vorn zur Ersten Klasse und stieg endlich ein. Nun setzte auch ich mich in Bewegung, wollte aber nicht riskieren, in die Erste Klasse ohne ein Billett einzusteigen. Zwar gab es unterwegs keine Möglichkeit, die Reisenden zu kontrollieren, doch von nun an würde der Zug auf zahlreichen kleinen Stationen anhalten und da gab es dann mit Sicherheit auch entsprechende Kontrollen. Also steuerte ich wahllos auf die Zweite Klasse zu, spähte vom Trittbrett in ein leeres Abteil und nahm Platz. Im Vorbeigehen hatte ich einen flüchtigen Blick auf den Priester werfen können, der direkt an einer Tür saß und den Perron scharf zu beobachten schien. Als ich vorbeikam, erhob er sich, als wolle er mir den Zutritt notfalls mit Gewalt verweigern. Ich blieb kurz stehen, führte eine leichte Verbeugung aus und ging weiter. Als ich die Abteiltür schloss, ruckte der Zug auch schon an, und ich richtete mich so gut ich konnte, ein. Die erste Station würde Franzdorf sein, in noch nicht einmal drei Meilen Entfernung. Hier hatte man ein gewaltiges Viadukt gebaut, über das die Bahn für eine ganze Weile dahinzockeln würde, und ich war auf dieses Wunder der Technik schon ein wenig gespannt. Die Spannweite der einzelnen Bögen galt als Sensation und hatte schon in den vergangenen Jahren häufig Ingenieure nach Franzdorf gebracht, die das Viadukt immer wieder für ihre Arbeiten neu vermessen wollten.
Endlich СКАЧАТЬ