Название: Die Träume von Macht
Автор: Eckhard Lange
Издательство: Bookwire
Жанр: Языкознание
Серия: Antike Sagen - für unsere Zeit erzählt
isbn: 9783738083774
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Thessi versuchte sich auch an einer eigenen Sprache, zumindestens stellte er für zahlreiche Worte frei erfundene Silbenkombinationen als Synonyme auf, dem Nichteinge- weihten rätselhaft und abstrus, den Mitgliedern ein Code für bestimmte, ihnen wichtige Begriffe. Wurden auch sie zusätzlich mit dem Ring verschlüsselt, war das geheimste Geheimnis erschaffen.
Im Grunde jedoch blieb das alles kindliche Spielerei, und er wurde ihrer zunehmend überdrüssig, auch wenn er an den Treffen festhielt und so nicht nur eine treu ergebene Schar von Anhängern um sich versammelte, sondern auch mit ihnen und durch sie Einfluß auf alles Geschehen während der Pausen und außerhalb des Schulhofes nahm. Selbst den Unterrichtenden blieb das nicht verborgen, und es geschah durchaus, daß sie den Anführer um Mithilfe baten, wenn ihnen eine Situation außer Kontrolle zu geraten schien. Thessi ließ sich dann huldvoll herab, einen Streit zu schlichten, einen Mitschüler in die Schranken zu weisen oder einen anderen zu schützen. Das verhalf nicht nur seinen Zeugnissen ungemein zu besseren Noten, es erfüllte ihm auch seine Träume vom edlen Ritter, der sich im Dienst an den Elenden verzehrte, auch wenn die Maßnahmen, die er ergriff oder doch anordnete, nicht immer als ritterlich oder gar edel bezeichnet werden konnten. Eher schon ließ sich sein Tun mit dem antiker Helden vergleichen, die so manchem Unhold sein bösartiges Handwerk legten, indem sie ihn mit seinen eigenen Untaten straften. Ja, diese Art zu vergelten machte sich Thessi immer stärker und immer häufiger zu eigen, denn in ihr vereinte sich alles, was ihn bewegte: rächende Gerechtigkeit, tapfere Heldentaten - und der Nachweis seiner Überlegenheit, seiner unbeschränkten Macht über andere.
Die Rächer
Es war an einem sonnigen Juninachmittag, als sich in der Stadt eine ungeheuerliche Neuigkeit herumsprach: Ein Fünftklässler war von zwei unbekannten älteren Jugendlichen auf dem Heimweg überfallen worden, der ihn durch einen knickgesäumten Hohlweg zum abgelegenen elterlichen Anwesen führte. Dort war er hinter die Wallhecke geschleppt und grausam mißhandelt worden. Obwohl er freiwillig erst sein Taschengeld, dann seine Jeansjacke und auf Befehl auch seine neuen Marken-Turnschuhe hergab, zogen sie ihm das T-Shirt über das Gesicht, stießen ihn zu Boden und wälzten ihn mit bloßem Oberkörper in einem brennessel- bestandenen Graben hin und her. Dann zündeten sie sich Zigaretten an, rauchten und drückten ihm die glühenden Enden mehrfach auf die nackte Haut, befahlen ihm endlich, nicht eher aufzustehen, als bis er laut bis hundert gezählt hätte, um sich derweil mit ihrer Beute aus dem Staube zu machen.
Während Polizeibeamte das völlig verstörte Opfer ohne großen Erfolg befragten, andere ebenso erfolglos den Tatort nach Spuren absuchten oder die Akten nach vergleichbaren Fällen durchforsteten, erließ Thessi per Rundruf den Befehl zur sofortigen Versammlung. Die Jungen erschienen unter ihrem Totembaum, und Thessi hielt, wegen der besonderen Bedeutung der Zusammenkunft stehend, folgende Ansprache:
"Was dort geschehen ist, ist keine bloße Abzocke, wie sie nach unseren Gesetzen in besonderen Fällen erlaubt wäre. Ebenso ist es kein gerechtfertigter Racheakt. Es ist ein gemeines Verbrechen. Auch wenn der Junge keiner von uns ist, es geht uns alle an. Wir dulden keine Verbrechen in unserem Gebiet, und wir werden alle bestrafen, die einen Schüler unserer Schule entführen und foltern. Dies ist eine Sache der Ehre, und eine Verpflichtung zur Rache. Schwört mit mir, daß niemand in die Ferien geht, ehe die Täter nicht bestraft sind."
Er schwieg und blickte in die Runde. Alle hatten sich erhoben und hoben die Rechte zum Schwur. Thessi nickt zufrieden, dann gab er die nötigen Anweisungen. Zunächst wurde beraten, welche Jugendlichen als Täter in Frage kommen könnten. Namen wurden genannt, Vermutungen angestellt, eine Reihenfolge der Verdächtigen wurde festgelegt. Dann bildete Thessi Vierergruppen, die je einen der besonders Verdächtigen überprüfen sollten. Er machte durchaus professionelle Vorgaben: Unauffällige Befragungen im Umfeld, um den jeweiligen Aufenthaltsort während der Tatzeit festzustellen. Sollte kein eindeutiges Alibi vorliegen, weitere Observierung des Verdächtigen, wobei besonderes Augenmerk auf alle Kontakte mit einem der anderen genannten möglichen Täter zu legen ist. Wenn möglich und nötig, ist auch - vorübergehend – ein unbemerkter Diebstahl erlaubt, um etwa ein Notizbuch zu überprüfen, ebenso eine Durchsuchung des Zimmers nach den abgezockten Kleidungsstücken, wenn es unbeobachtet bleiben kann. Berichterstattung bis Sonnenuntergang. Damit war der Geheimbund entlassen.
Thessi selbst beteiligte sich nicht an diesen Aufgaben. Er begab sich zum Tatort, nachdem er sicher war, daß die Polizisten abgezogen waren. Er sah sich eine Weile um, weniger um Spuren zu finden, sondern um seinen Plänen genaue Gestalt zu geben. Und er besuchte das Opfer.
Auch hier war die Polizei ohne greifbare Erkenntnisse geblieben, weil der eingeschüchterte Junge kaum verwertbare Informationen geben konnte - oder auch geben wollte. Thessi aber saß an seinem Bett, betrachtete aufmerksam die versorgten Wunden, ließ ihm Zeit für Tränen, für Schluchzen und Zittern - er hatte seiner Psychologin in kurzer Zeit manches abgeguckt - und er versprach, daß er ihn vor jeder Rache schützen würde, wenn er ihm Näheres über die zwei verraten könnte. Und Thessis Wort galt - mehr als alle Versicherungen der Vernehmungsbeamten. Der Rest war kein Problem mehr.
So konnte Thessi am Abend mit Anerkennung alle Bemühungen seiner Gefolgschaft zur Kenntnis nehmen, obwohl sie keine eindeutigen Beweise einzubringen vermochte. Thessi hörte trotzdem geduldig zu, lobte hier und korrigierte dort ein vorschnelles Urteil, und als alles gesagt war, ohne daß ein Ergebnis vorlag, nannte er die Namen der beiden Täter. Nur so, aber mit Entschiedenheit.
Dann beantragte er in aller Form ein Urteil des Bundes. Die beiden Täter, führte er aus, seien in gleicher Weise zu strafen, wie sie ihr Opfer behandelt hätten. Auge um Auge, Zahn um Zahn. Doch sollte ihrem höheren Alter und ihrer deshalb eigentlich zu erwartenden größeren Vernunft entsprechend energischer - also abschreckend eben - vorgegangen werden. Auch Kain sollte siebenfältig gerächt werden. Thessi gefiel sich in mancherlei Zitaten, ob sie stets zutrafen, wußten seine Zuörer ja sowieso nicht.
Es gab keine Diskussion dieses Vorschlags. Niemand hätte gewagt, dem Anführer in solch wichtiger Sache zu widersprechen, aber hier stimmten sie auch aus Überzeugung zu, obwohl keiner sich so recht vorstellen konnte, wie dieses Urteil in der Wirklichkeit zu vollstrecken wäre. Doch dafür gab es ja Thessi, er wußte den Weg, er würde sie führen. Wieder erhoben sich alle, um mit aufgerecktem Arm dem Urteil zuzustimmen. Dann blickten alle erwartungsvoll auf den einen, der da lässig und siegessicher am Stamm der Buche stand.
Er ließ sie sich wieder setzen, um ihnen ruhig und bestimmt den Plan zu entwickeln, den er bereits dort, am Ort der Tat, bis in alle Einzelheiten erdacht hatte. Noch in der gleichen Nacht würden sie sich - nacheinander - nahe den Häusern der Täter versammeln. "Macht euch Masken, Sturmhauben, zieht einen alten Pudel über den Kopf und schneidet Sehschlitze hinein. Rächer und Helfer bleiben stets unerkannt. Ich brauche feste Stricke als Fesseln. Wer kann die besorgen?" Mehrere Jungen meldeten sich. "Gut, das wird reichen. Die Raucher bringen ihre Zigaretten mit. Ich komme mit einem offenen Lieferwagen zum Abtransport der Gefangenen, ausgeborgt für ein paar Stunden. Nachts gibt es keine Kontrollen im Stadtgebiet. Macht euch auf einen kurzen Kampf bereit. Aber wir sind genug, um auch den Stärksten niederzuwerfen. Sollte einer bewaffnet sein, werde ich ihm die Waffe abnehmen, erst danach greift ihr an. Wir schaffen sie gefesselt zum Tatort und vollziehen dort das Urteil. Stets soll Gerechtigkeit siegen!" Dann nannte er noch Ort und Zeit für das Zusammentreffen. Daß niemand anderes - auch keine Eltern - etwas erfahren würden, war allen selbst- verständlich.
Es war unerwartet einfach, die beiden vor die Haustür und in eine Nebenstraße zu locken: Ein Anruf per Telefon, vorgeblich vom jeweils anderen, wurde als echt verstanden und befolgt. Keiner wagte eine Gegenwehr, als СКАЧАТЬ